Buch „Palo Alto“ über Silicon Valley: Von Goldrausch bis KI
In seinem Sachbuch erzählt Malcolm Harris die Geschichte des Silicon Valley mit all seinen Abgründen neu. Es hat das Zeug zum Klassiker.
Berühmte Geschichte: Leland Stanford, der ehemalige Gouverneur von Kalifornien und Gründer der gleichnamigen Eliteuniversität, wollte 1870 wissen, ob die vier Hufe eines Pferds beim Galoppieren je alle gleichzeitig in der Luft sind. Weil man das mit bloßem Auge nicht sehen kann, wollte er die Frage mit moderner Technik klären und beauftragte den Fotografen Eadweard Muybridge, der durch seine Landschaftsaufnahmen in den USA berühmt geworden war.
Muybridge baute auf der riesigen Ranch Stanfords, auf deren Grundstück sich heute der Campus der Stanford University befindet, eine Rennbahn, an deren Rand er 16 Plattenkameras platzierte. Jede von ihnen wurde durch eine Art Stolperdraht ausgelöst, wenn die Hufe des vorbeigaloppierenden Pferdes ihn berührten.
So entstanden 1874 die ersten Bilderserien, die die verschiedenen Phasen des Pferdegalopps erstmals festhielten – inklusive einem Bild, das zeigte, dass alle Hufe an einer Stelle tatsächlich über dem Boden schweben. Muybridge zeigte die Bildfolgen mit einer Laterna Magica und schuf mit diesen „laufenden Bildern“ einen Vorläufer des Films.
So steht es überall – aber leider ist es nicht die ganze Wahrheit. Denn Stanford, der durch den Eisenbahnbau zu einem extrem wohlhabenden Mann geworden war, ließ die Fotosequenzen wohl tatsächlich zur Geschäftsoptimierung aufnehmen. Nachdem er sich aus der Politik zurückgezogen hatte, widmete Stanford sich auf seiner Ranch der Pferdezucht. Dafür entwickelte der Autodidakt vollkommen neue Zuchtmethoden.
Eine Art, Geschäfte zu machen
Seit Jahrhunderten hatte man mit dem Training von Pferden erst in deren achten oder neunten Lebensjahr begonnen. Stanford ließ schon Fohlen, die erst sechs Monate alt waren, im Trott schulen. Einigen Jungtieren rissen dabei die Sehnen. Aber die Tiere, die das harte Training überstanden, konnten sehr jung zu astronomischen Summen verkauft werden. In einer Zeit, als Pferde noch Kutschen, Pferdebusse oder Militärausrüstung zogen, verdiente Stanford abermals Millionen.
Malcolm Harris: „Palo Alto. A History of California, Capitalism, and the World“. Little, Brown and Company, 629 S., New York 2023, 34,99 Euro
Solche brachialen Methoden sind typisch für die Art, wie in diesem Teil der Welt seither Geschäfte gemacht werden. Stanford ließ ein vollkommen neues technisches Verfahren der Datenerfassung per Fotografie entwickeln, mit der er herkömmliche Produktionsmethoden so optimierte, dass ein ganzes Geschäftsmodell Opfer dieser „Disruption“ wurde.
Auf der Strecke blieben dabei Opfer aus Fleisch und Blut, die sich nicht dagegen wehren konnten, Subjekt eines Hightech-Paradigmenwechsels zu werden, den ein finanzkräftiger Unternehmer entwickelt hatte und mit dem er fantastische Gewinne erzielte.
Genauso operieren heute die IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley, die um die ehemalige Ranch von Leland Stanford ihre Büros haben; ihre Gründer wurden oft genug in der Universität ausgebildet, die Stanford gegründet hatte.
Die Geschichte, wie Unternehmen aus dem Santa Clara Valley schon lange vor Google, Facebook oder OpenAI ohne Rücksicht auf Verluste und auf Menschen technisch innovative, aber gesellschaftlich problematische Geschäftsmodelle global durchsetzten, erzählt der US-amerikanische Autor Malcolm Harris in seinem neuen Buch „Palo Alto. A History of California, Capitalism, and the World“.
Und diese Geschichte beginnt für den Autor, der einst an „Occupy Wallstreet“ beteiligt war und heute als eine Stimme linker US-Millennials gilt, lange vor der Entstehung der Halbleiterindustrie, die der Gegend ihren Namen gegeben hat.
Schon beim Goldrausch verwüsteten schlecht bezahlte Tagelöhner im Auftrag wohlhabender Unternehmern unkontrolliert die Umwelt. Die ökologischen Schäden haben zum Teil Auswirkungen bis heute.
Als Kalifornien anschließend zum Staat der Obstplantagen wurde, waren es wieder rechtlose Arbeitsmigranten, die für die weißen Zitrusfarmer die Drecksarbeit erledigten. Harris’ Berichte über die Ausbeutung dieser Fronarbeiter erinnern an die McJobs, mit denen heute Silicon-Valley-Firmen wie Uber ihren Fahrern das Leben zur Hölle machen.
Ausbeutung von Minderheiten
Harris präpariert hinter der Fassade von innovativen Konsumprodukten und Geschäftsmodellen einen tiefsitzenden Rassismus heraus, der sich nicht nur in der gut verborgenen Ausbeutung von Minderheiten zeigt – seien es die philippinischen Heimarbeiterinnen, die in ihren Wohnzimmern Festplatten für den Apple Macintosh zusammenlöteten, sei es der Völkermord an den Rohingya in Myanmar, der über Facebook orchestriert wurde, ohne dass das Unternehmen etwas unternahm.
Wichtige Figuren in der Geschichte des Valleys waren Anhänger der Eugenik – von David Starr Jordan, dem ersten Präsidenten von Stanford, über William Shockely, dem Erfinder des Transistors, bis zu Elon Musk, der der absurden Lehre des „Longtermism“ anhängt, die unter anderem die Züchtung von hochintelligenten Supermenschen predigt.
Harris ist in der öden Schlafstadt Palo Alto, die als die Hauptstadt von Silicon Valley gilt, geboren und aufgewachsen, und man merkt, dass er hier noch einige Rechnungen offen hat. Das Buch ist oft polemisch und quillt über mit Material. Die unübersichtliche Menge an Protagonisten erinnert irgendwann an „Anna Karenina“, und immer wieder wünscht man sich ein Personenverzeichnis.
Das Silicon Valley hat für unsere Gegenwart wohl eine ähnliche Bedeutung wie für andere Zeitalter Athen, Rom oder Paris. Über diesen Teil der Welt wurden inzwischen Dutzende von Büchern geschrieben. Aber erst Malcolm Harris ist es gelungen, die technologische und kulturelle Bedeutung von Silicon Valley derart umfassend und im ganz großen sozioökonomischen Zusammenhang darzustellen.
Nicht umsonst wird das Buch schon mit Mike Davis’ Klassiker „City of Quartz“ über Los Angeles verglichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr