Brunner-Prozess in München: Der erste Schlag
Die Wahrheitsfindung im Münchner Mordprozess ist schwieriger als angenommen. Vor allem weil es weitere Widersprüche zur Version der Staatsanwaltschaft gibt.
MÜNCHEN taz | Vielleicht bringt ja die Tonaufnahme Klarheit. Aus den kleinen Lautsprechern im Gerichtssaal scheppern schrille, verzerrte Schreie, dumpfe Geräusche, Stimmen, die wild durcheinander brüllen, ein Mann, der vor Schmerz stöhnt. So klingen am achten Verhandlungstag die bedrückendsten zwei Minuten des Prozesses zur tödlichen Schlägerei am Münchner S-Bahnhof Solln. Die Aufnahmen stammen von Dominik Brunners Handy, aufgenommen am 12. September 2009, zwischen 16.10 Uhr und 16.12 Uhr. Es sind die zwei Minuten, in denen Dominik Brunner totgetreten wird.
Brunner hatte sein Telefon in der Hosentasche. Durch Zufall wurde die Wahlwiederholungstaste gedrückt und das Handy mit der Notrufzentrale der Polizei verbunden. Zu hören ist die zügellose, brutale Aggression der Täter. "Du Sau", schreit einer. "Du Arschloch", "du Bastard", "du Motherfucker". Und dass Dominik Brunner, das Opfer, nach wenigen Sekunden verstummt. Zu hören ist aber auch, dass in den ersten Sekunden vor allem Dominik Brunner die Situation anheizt. "Oan dawischt's gleich" - "Einen erwischt es gleich", droht er den Tätern. "I nimm oan mit, i nimm oan mit" - "Ich nehm einen mit." Viel mehr lässt sich auf der Aufnahme nicht verstehen. Die Klangqualität sei "sehr problematisch", sagt die Gutachterin des LKA. So bringt auch der achte Verhandlungstag keine Klarheit in den Fall Brunner.
Mit jedem Tag, an dem die Jugendkammer des Münchner Landgerichts versucht, die Wahrheit ein Stück mehr einzugrenzen, desto verschwommener wird sie. Zeugen widersprechen einander und sich selbst, offenbaren Erinnerungslücken, wollen auf einmal Details beobachtet haben, von denen sie noch am Tag der Tat nichts wussten. Eigentlich sollte am heutigen Donnerstag das Urteil gefällt werden. Doch die schwierige Wahrheitsfindung zieht sich unerwartet in die Länge. Das Gericht hat vorerst vier zusätzliche Verhandlungstage angesetzt.
Das Opfer: Dominik Brunner, 50, beobachtete am 12. September 2009, wie Sebastian L. und Markus S. in der S-Bahn von anderen Jugendlichen Geld forderten. Er rief die Polizei. Am Bahnsteig in Solln kam es zur Schlägerei, Brunner erlitt schwere Verletzungen. Er starb an Herzstillstand.
***
Die Täter: Sebastian L. und Markus S., zur Tatzeit 17 und 18, sitzen in Untersuchungshaft. Sie sind des Mordes angeklagt. Das Urteil wird vermutlich am 9. September gefällt.
Dabei schien zunächst alles festzustehen. Der couragierte Manager Dominik Brunner, 50, hatte im September 2009 in der S-Bahn vier Teenager vor zwei jugendlichen Räubern beschützt und wurde totgeprügelt. Das Verbrechen bewegte das Land und die Zeitungsboulevards. Vom Bundespräsidenten bekam Brunner posthum das Bundesverdienstkreuz, von den Medien wurde er zum "Held von Solln" erklärt. Die verhafteten Schläger Markus S. und Sebastian L. gerieten in der Berichterstattung immer mehr zu brutalen Killern. Die tödlichen Minuten von Solln wurden zur Geschichte eines heimtückischen Mords mit einem makellosen Helden. Die bayerische Justizministerin Beate Merk forderte schon zwei Tage nach Brunners Tod eine Heraufsetzung der Höchststrafe im Jugendstrafrecht von 10 auf 15 Jahre.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft aus dem Januar ist noch ganz im Geist dieser aufgeregten Stimmung verfasst. Die Schläger sind des Mordes angeklagt. Sie hätten verabredet, sich an Brunner für sein Einschreiten zu rächen, und ihn getötet, behauptet die Staatsanwaltschaft. Fakten, die nicht in die Version vom vorsätzlichen Mord passten, ließ die Staatsanwaltschaft großzügig weg. Dass Brunner laut Obduktionsbericht und Aussagen von Sanitätern und Ärzten an einem Herzstillstand starb, verschweigt die Anklage. Dass nach zahlreichen Zeugenaussagen der Angeklagte Markus S. besonders brutal zutrat, während der andere Angeklagte Sebastian L. laut einigen Zeugen mehr daneben stand als prügelte und sogar versucht haben soll, Markus S. von seinem Opfer Brunner wegzuziehen - kein Wort davon in den neun Seiten der Staatsanwaltschaft.
In Saal A 101 prallt die wacklig zusammengezimmerte Anklage seit zwei Wochen auf die Realität. Es ist ein Sitzungssaal wie aus einem 70er-Jahre-Bunkeralbtraum: praktisch keine Fenster, weiße Wände, orange-braune Sessel, verschwitze Luft. Kleine Ventilatoren surren vergeblich gegen die Sommerhitze an. Zwischen Aktenordnern und Angeklagten sitzen vier unerwartet entspannte Verteidiger. Man könnte denken, dass die Anwälte von Sebastian L. und Markus S. angesichts der schweren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft kräftig zurückschießen, mit aggressiven Anträgen und polternden Wortmeldungen.
Aber die vier beschränken sich auf ruhiges, sachliches Nachfragen. Jeder Tag eröffnet weitere Widersprüche zur Version der Staatsanwaltschaft. Und jeder Tag lässt ihre Mandanten ein Stück weit weniger wie Monster und ein bisschen mehr wie Menschen erscheinen.
Markus S., 19, sitzt regungslos da und fixiert den Tisch vor ihm. So macht er es seit zwei Wochen. Seine Tätowierung am Unterarm verbirgt er unter langen Hemdsärmeln. Manchmal kritzelt er etwas auf einen Zettel. Im Gefängnis schreibe er oft Rap-Texte, sagt eine Betreuerin vor Gericht. "Er war ein rundum unauffälliger Bub", sagt Markus' frühere Grundschullehrerin. Markus fällt durch in der Realschule, scheitert am Hauptschulabschluss.
Er wohnt bei seinem großen Bruder, seinem Vorbild. Bis der ins Gefängnis kommt. Im April wird Markus S. verurteilt, weil er auf offener Straße einen Mann mit einer Gaspistole ausgeraubt hat. Er schläft die Tage durch, trinkt und raucht Gras. Bei der Attacke auf Dominik Brunner hatte er 1,46 Promille Alkohol im Blut.
Sebastian L. hat im Gericht die Hände ruhig gefaltet. Er trägt ein kurzärmliges Hemd und ein Armband in Regenbogenfarben. Er wirkt klein und schmächtig. Beim Angriff auf Brunner wog er 55 Kilo. Alkohol hatte er nicht getrunken. Er lebte bei seiner Mutter, bis sie nach einer Hirnblutung zum Pflegefall wurde. Dann bei seinem Vater, bis der an einem Schlaganfall starb. Sebastian war in mehreren Jugendwohnheimen und kam im Mai 2009 im Easy Contact House des Münchner Vereins Condrobs unter.
Sein junger Betreuer sagt vor Gericht aus, Sebastian habe die Berufsschule geschwänzt. Danach habe man ihn einfach nicht mehr geweckt. Obwohl er von Drogen loskommen sollte, kifft Sebastian weiter. In der Nacht vor dem 12. September 2009 sollte Sebastian zur Strafe im Haus schlafen. Stattdessen übernachtete er bei Markus.
Sebastian habe Markus für seine Coolness bewundert, sagt sein Betreuer. Aber hat er auch am Bahnsteig in Solln mit auf Brunner eingetreten? Danach sieht es im laufenden Prozess immer weniger aus. "Er hat zugeschlagen, aber es war für ihn Schluss, als Herr Brunner auf dem Boden lag", sagte Roland Authenriet, einer der Anwälte von Sebastian L., in der Süddeutschen Zeitung. Die meisten Zeugen haben das bestätigt. Getreten habe nur Markus S., sagt etwa eine Zeugin, die vom anderen Bahnsteig aus zugesehen hatte. Sebastian L. wirkt mit laufendem Prozess lockerer, er begrüßt seine Anwälte mit Handschlag. Markus S. scheint manchmal den Tisch vor ihm noch fester anzustarren als zu Beginn.
"Es ist vielleicht Spaß"
Dabei hat auch Markus S. nach derzeitiger Beweislage gute Chancen, wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt zu werden, nicht wegen Mord. Brunner hat am Bahnsteig als Erster zugeschlagen. Nach der Version der Staatsanwaltschaft wollte er damit einen Angriff von Markus S. abwehren: "Die beiden Angeklagten gingen nunmehr in Angriffsstellung mit geballten Fäusten auf den Getöteten zu", heißt es in der Anklage. Die Zeugenaussagen haben das bislang nicht bestätigt. Der Fahrer der S-Bahn sagte aus, Brunner habe sofort angegriffen. Andere Zeugen nahmen die Auseinandersetzung offenbar zuerst nicht ernst. "Ich hab mir gedacht, es ist vielleicht Spaß", sagt eine Zeugin, die unmittelbar vor den tödlichen Schlägen an der Gruppe vorbeigegangen sein will.
Auch ein möglicher Herzfehler Brunners könnte das Urteil mildern. Die Sanitäter, die Brunner eine Stunde lang vergeblich versuchten zu reanimieren, sagten aus, Brunner habe keine schweren sichtbaren Verletzungen gehabt, nur kleinere Wunden im Gesicht. Der Notarzt schrieb in sein Protokoll als Diagnose "Verdacht auf Herz-Rhythmus-Störung und Schädel-Hirn-Trauma". Ein Arzt sagte aus, Brunner sei mehrmals wegen möglicher Herzbeschwerden zu ihm gekommen. Eine Ultraschalluntersuchung habe ergeben, Brunners Herz sei grenzwertig groß gewesen. Eine Herzerkrankung, die man behandeln müsse, sei das aber nicht gewesen.
Was auch immer die Gewalt am Bahnsteig ausgelöst hat, es muss schnell gegangen sein. "Ja, grüß Gott, mein Name ist Brunner", brummt es aus den Lautsprechern. Es ist die Tonaufzeichnung von Brunners Notruf aus der S-Bahn nach Solln. Aufgenommen um 16.05 Uhr und 35 Sekunden. Fünf Minuten vor den tödlichen Tritten. "Mir san gegenüber zwei junge Männer gesessen, die wollen zwei andere junge Männer ausrauben", sagt Brunner in warmem niederbayerischem Ton. Brunner schildert ohne jede Spur von Anspannung. Der Beamte am anderen Ende sagt, man werde eine Streife zum Bahnhof Solln schicken. Als die Polizei eintraf, hat Dominik Brunners Herz schon nicht mehr geschlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren