Britische Schriftstellerin A.L.Kennedy: Die Beichte eines Spitzels

Das Leben einer Grundschullehrerin bricht auseinander in A. L. Kennedys neuem Roman. Da taucht zudem ein verhasster Mann aus der Vergangenheit auf.

Portrait der Autorin A.L.Kennedy

Die Autorin A. L. Kennedy situiert ihren Roman in einem vom Brexit ­gebeutelten Land Foto: Gary Doak/eyevine/laif

„Verzeihen Sie mir, wenn ich unsere Eingangsszene so darstelle wie in einem Film. Ich wollte in keiner Spionagehandlung mitmachen, auch in keinem Actionfilm oder Politthriller, aber es ist immer wieder passiert.“ Mit diesen Worten wendet sich Anna McCormic, Grundschullehrerin und Erzählerin in A. L. Kennedys neuem Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“, an den Leser. Vor allem muss sie mit den Folgen des Corona-Lockdowns fertigwerden.

Zusammen mit ihrem gerade erwachsen gewordenen Sohn sitzt sie in ihrem kleinen Haus in einem Londoner Hinterhof fest und versucht mühsam, über den Bildschirm den Kontakt zu ihren Schülern aufrechtzuerhalten. Dass ihr Freund vom Lockdown in Schottland festgehalten wird, macht das Leben für sie nicht leichter.

Aber nicht nur die Folgen von Covid-19 setzen ihr zu. Es sind auch die anderen schlechten Nachrichten. Da ist ihre Heimat, die mit dem Brexit gerade versucht, ihre alte imperiale Größe auszugraben, und sich dabei auf den Weg in die Armut begibt. Da ist der Klimawandel, der für Millionen Menschen eine Klimakatastrophe ist und London gerade eine unerträgliche Hitzewelle beschert. Ihr größtes Problem aber ist das Auftauchen eines Mannes, den sie nie wieder sehen wollte. Den offenbar sein schlechtes Gewissen plagt und der ihr Umschläge mit einer Art Lebensbeichte vor die Tür legt. Um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, fängt McCormic an zu schreiben.

A. L. Kennedy: „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Hanser, München 2023, 464 Seiten, 28 Euro

A. L. Kennedy gelingt es mit „Als lebten wir in einem barmherzige Land“, sich mit großem Einfühlungsvermögen in das Leben eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Ihre Erzählerin Anna McCormic drohen die Widersprüche zu zerreißen. Einerseits sieht sie, wie die englische Gesellschaft immer mehr auseinanderbricht, andererseits soll sie den Kindern in ihrer Klasse Zuversicht und Lust aufs Leben vermitteln. Einerseits hat sie mit F. L., wie sie ihren Freund Francis Lewis nennt, wenn sie ängstlich und unsicher ist, wieder einen Mann gefunden, zu dem sie Vertrauen haben kann, andererseits werden die alten Ängste wieder hochgespült, als der Mann wieder auftaucht, der sie auf die widerlichste Weise verraten hat.

Strategien der Hoffnung

Neben dem Schreiben versucht sie, den Problemen mit verschiedene Strategien die Stirn zu bieten. „An jedem Tag kann guter Wille uns auch helfen, gut zu sein“, schreibt sie. „Was wäre sonst der Sinn? Und wie bei den Fünftklässler-Eicheln ist es auch mit der Welt – wir wären in einem viel schlimmeren Schlamassel, wenn wir alle aufgeben würden. Außerdem sollte man begreifen: Was wir uns regelmäßig sagen, das werden wir auch.“

Sie nennt den wiederaufgetauchten Mann „Buster“, weil sie seinen wahren Namen nicht kennt. Buster, nach „Buster Kea­ton, dem ungerührten Mann“, dem mit dem knochentrockenen Humor. Wobei es Unterschiede gibt. „Busters Ausdruck hat nichts mit Können zu tun. Es ist einfach sein glücklicher Ort: eine Art Nirgendwo. Er zeigt mir nicht Knochentrocken, er zeigt mir den entspannten Psychopathen. Leicht zu verwechseln, wie sich herausstellt.“

Er ist ein „Stilzchen“, einer, der wie Rumpelstilzchen seine böse Macht entfaltet, indem er seinen wahren Namen verschweigt

Er ist ein „Stilzchen“, einer, der wie Rumpelstilzchen seine böse Macht entfaltet, indem er seinen wahren Namen verschweigt. In den 1980er Jahren, während ihres Studiums, war er in McCormics Straßentheatertruppe aufgetaucht, dem „UnRule OrKestrA“, das bei Streiks und Demonstrationen mit Sketchen und Akrobatik auftrat.

Damals nannte er sich „Der Baron“ und seine Nummer bestand darin, dass er ein langes Gummiband, an dessen Ende ein Stoffhase befestigt war, mit Hilfe eines Kindes um die Zuschauergruppe spannt. Auf Befehl des Kindes hin ließ er den Hasen los, der dann um und durch die Gruppe sauste.

Ein V-Mann der Londoner Polizei

Irgendwann waren „Der Baron“ und McCormic ein Paar. Bis sich herausstellt, dass Buster ein V-Mann der Londoner Polizei ist und von einem Augenblick auf den anderen verschwand. Jahrzehnte später erkennt ihn Anne McCormic in dem Gerichtsgebäude wieder, in dem ein Prozess gegen das OrKestrA stattfindet. Die anarchische Theatertruppe, die sich nach Busters Verschwinden aufgelöst hatte, war noch einmal auf einer Demonstration aufgetreten. Sie hatten Laternen mit offenem Feuer fliegen lassen, durch die es unbeabsichtigt zu einem Brand gekommen war.

Aber wer ist dieser Buster wirklich? Zu der Figur inspiriert hat A. L. Kennedy wohl der Polizist Mark Kennedy, der von 2002 bis 2009 erst in England und dann in ganz Europa als V-Mann der Londoner Metropolitan Police linke Gruppen unterwandert hat. Fünf Jahre lang hatte er eine Beziehung zu einer Aktivistin. Als Agent Provokateur hat er verschiedene Gruppen immer wieder zu mehr Radikalität angespornt.

Aber er war kein Killer, kein Rächer, der Pädophile und Mafiabosse umbringt, wie Buster gleich in der ersten Passage, die A. L. Kennedys Erzählerin dem Leser vorlegt, behauptet. Wobei Morde durch die Metropolitan Police auch nicht aus der Luft gegriffen sind. 2021 wurde der Polizist Wayne Couzens wegen mehrfacher Vergewaltigung und Mord zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Der Leser von Kennedys Roman wird im Unklaren darüber gelassen, wer Busters Lebensbeichte geschrieben hat: er selbst oder die in Wut, Hass und Verunsicherung hin und her geworfene Erzählerin. Ein Hinweis, dass viele Teile nicht von ihm stammen, gibt McCormic selbst, indem sie erklärt, dem Leser nicht alles aus den Umschlägen vorzulegen. Zudem unterscheidet sich eine Passage weiter hinten im Roman in ihrer Schreibweise stark von den ersten Teilen.

Oder hat sich Buster auch hier wieder nur verstellt, wie er sich sein ganzes Leben lang verstellt hat? A. L. Kennedy hat mit „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ einen Roman geschrieben, der auf berührende Weise die Geschichte einer Grundschullehrerin in einer prekären Welt erzählt. Dazu kommt die irritierend einfühlsame Lebensbeichte eines V-Mannes. Ein Buch, das den Stilzchen dieser Welt etwas entgegenzusetzen versucht, oft mit Ironie und Sarkasmus, kurz: mit Lachen. Das die großen Fragen des Lebens stellt, ohne letztlich Antworten auf sie geben zu können.

Die Frage aber, die A. L. Kennedys Erzählerin bis zum Ende umtreibt und die nicht nur mit Buster zu tun hat, sondern mit etwas anderem Schrecklicheren, eine Frage, die für sie selbst existentielle Bedeutung hat, ist die nach der Barmherzigkeit: Wie kann man barmherzig gegenüber jemandem sein, der etwas Unverzeihliches getan hat?

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