Brief einer japanischen Autorin: Ich entscheide mich zu leben

Massenweise besorgte E-Mails und Anrufe, ständiges Grübeln bis zum Schlechtwerden, aber endlich Vollmond. Akira Kuroda über ihre Gründe, in Tokio zu bleiben.

Die Lichter sind aus, doch viele Leute bleiben: Im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho wird Energie gespart. Bild: dpa

Es gibt im Leben entscheidende Momente. Man könnte auch sagen: Jeder Moment im Leben ergibt sich aus Entscheidungen. Gestern war ein seltsamer Tag, und ich musste mir über meine Entscheidungsprozesse klar werden; obwohl seit dem Erdbeben jeder Tag ziemlich merkwürdig ist, fühlt es sich fast so an, als habe unsere Wirklichkeit eine zusätzliche Ebene erhalten.

Letzte Nacht bin ich im Haus einer Freundin geblieben. Sie hatte sich in der Nacht zuvor bei einem Nachbeben das Bein gebrochen. Sie lebt in einem tollen Haus mit Wendeltreppe, und es ist ein ziemlich solides Betongebäude, aber im Moment leiden wir alle unter Informationsüberlastung und sind fürchterlich sensibel. Als dieses ziemlich heftige Nachbeben eintrat, war sie so panisch, dass sie ihre Wendeltreppe hinunterfiel; sie stieß sich ziemlich schlimm am ganzen Körper und hatte ungewöhnliche Schmerzen. Aber es war mitten in der Nacht, und deswegen wartete sie bis zum Morgen, um zum Arzt zu gehen. Ich hatte wenig Lust, alleine in meiner Wohnung zu bleiben, also ging ich zu ihr. Sie ist eine meiner engsten Freundinnen.

Auf dem Weg zu ihrem Haus entdeckte ich, dass ich die Dinge anders wahrnehme. Schauen Sie sich um: Sind Sie im Büro? In einem Café? Im Zug? Sind es Fremde? Wenn etwas passiert, sind das Ihre Mitspieler. Das ist Ihr Team. Völlig Fremde bekommen eine ganz neue Bedeutung.

Wie auch immer. Sie kennen die Nachrichten, es geht ja nicht mehr nur um das Erdbeben, sondern um Radioaktivität. Bisher kannte ich das Wort "Radioaktivität" nur als Song von Kraftwerk, aber nun bekommt es einen anderen Klang. Ich bekomme mit, wie alles stündlich ernster und heftiger wird. Trotzdem weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob ich die Situation "voll" verstehe.

Ich bekomme viele Anrufe und E-Mails von meinen Freunden. Sie sagen mir alle, ich soll mich sofort in Sicherheit bringen, viele meiner Freunde haben die Stadt verlassen und bekamen unglaubliche Mengen von Gerüchten weitergeleitet, die angeblich "die Wahrheit" enthalten über das, was uns bevorsteht. Meine Eltern riefen an und bettelten, ich möge mit ihnen einen "sichereren" Ort aufsuchen, also unser kleines Haus in den Nagano-Bergen.

Ich merkte, dass meine Eltern die Situation so ruhig wie möglich meistern wollen, aber selbst sie sagten, dass sie darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Mein Mobiltelefon empfing rastlos und tonnenweise sogenannte Wahrheiten, Drohungen und Propaganda, verrückte Massen von Worst-Case-Szenarien. Von all diesen Mails oder Tweets und dem Gespräch mit meinen Eltern wurde mir schwindlig, mir wurde schlecht, richtig körperlich schlecht. Ich dachte, ich müsste mich übergeben. Also betrachtete ich aufmerksam meinen Gemütszustand und merkte, dass ich sehr angespannt war. Völlig gestresst.

Wer sagt, was normal ist?

Es gab Entscheidungen zu treffen. Ich besaß zufällig ein Ticket nach Okinawa für das Wochenende; ich hatte vor dem Erdbeben geplant, dort Freunde zu besuchen. Und ich machte mir Sorgen um meine Eltern; es gab mit auch zu denken, dass viele Freunde in den Westen Japans reisen. Oder ich könnte in Tokio bleiben. Sollte ich eine Münze werfen? Nein. Ich wusste: Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Ich musste mich entscheiden, ohne es hinterher zu bereuen.

Ich musste hundert Prozent sicher sein: nicht darüber, welcher Ort am "sichersten ist" - denn unter den gegenwärtigen Umständen kann man das nicht beurteilen, das Erdbeben scheint sich nach Süden zu bewegen -, sondern darüber, was ich will, wohin es mich zieht. Ich musste mir selbst darüber klar werden, was mir am wichtigsten ist. Ich wusste: Normalerweise müsste ich bei meinen Eltern sein, oder? Aber wer sagt, was normal ist? Die anderen? Dann brauchen wir wohl gar nicht nachzudenken, bevor wir entscheiden?

Gleich nach dem Erdbeben entschied ich mich zu leben. Ich wählte das Leben. Sicher, ich liefere mich vollständig aus, aber das heißt nicht, dass es mir egal ist, ob ich lebe oder nicht. Es ist mir NICHT egal. Es war nicht "Ich will leben", sondern: Ich ENTSCHEIDE mich zu leben. Auch wenn ich das nicht ganz allein entscheiden kann, sollte ich wenigstens eine Forderung an das Universum und das Schicksal stellen, oder? Mein ganzer Körper fordert Leben. Und ich fühle den Drang, mit Ihnen weiter darüber zu reden, was ich fühle und denke, denn ich will es teilen.

Es gibt einen schmalen Grat zwischen Optimismus und Realitätsverleugnung. Optimist zu sein, heißt, glaube ich, immer ruhig zu bleiben und abgeklärt urteilen zu können. Man kann sich so leicht etwas vormachen, indem man nicht nachdenkt oder die Situation ignoriert, und dann wird man Nihilist oder Romantiker. Aber Optimisten, so wie ich sie definiere, müssen an sich glauben, sich selbst lieben und vertrauen und ihre Verantwortung für sich selbst begreifen. Die Frage sollte lauten: Mit welcher Entscheidung bin ich am meisten zufrieden? Es gibt kein Richtig oder Falsch, keine "korrekte" Antwort im Leben wie in einem Fernsehquiz. Aber es gibt eine Antwort, deine eigene Antwort.

Unter dem Mondlicht spazieren gehen

Ich versuchte, nicht linear zu denken, mich von all den Informationen nicht ablenken zu lassen, sondern primitiver vorzugehen: meinen Instinkt zu nutzen. Und dann fand ich zum Glück meine eigene Antwort. Ich bleibe bis zum Wochenende in Tokio, dann fahre ich nach Nagano, wo meine Eltern sind.

Warum gehe ich nicht sofort? Ich werde es Ihnen sagen.

Dieses Wochenende ist Vollmond. Wegen Stromknappheit sind in Tokio jetzt die meisten bunten Neonlichter abgeschaltet. Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es in Tokio annähernd richtige Dunkelheit. Ein Freund, der auch in Tokio bleiben will, möchte mit mir in der Vollmondnacht ausgehen. Wir werden unter dem Mondlicht spazieren gehen. Cool, nicht wahr?

Dieser Plan kann sich schnell wieder ändern, denn ich folge einfach meinem Instinkt. Ich erlaube mir, so flexibel zu sein wie möglich. Ich verspreche, nichts außer ehrlich zu sein. Vielleicht werde ich morgen in Nagano sein. Ich weiß es nicht.

Was auch immer geschieht: Ich werde Ihnen weiter schreiben. Oh, ich möchte Ihnen von interessanten Gesprächen berichten, die ich heute in meinem Lieblingscafé in Shinjuku führte. Vielleicht nächstes Mal. Ich muss Ihnen nochmals danken, denn Ihnen zu schreiben hilft mir, in diesen außergewöhnlich gewöhnlichen Tagen mein Gleichgewicht und meinen Verstand zu bewahren. Danke!

Aus dem Englischen von Dominic Johnson

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.