Braunschweig vor der Bundestagswahl: Ein bisschen zu gut
In Braunschweig scheint die Wahl entschieden: Die Frauen-Union bejubelt Kanzlerin Angela Merkel. Themen? Braucht keiner.
Die Gegenwart Braunschweigs liest sich fast zu gut: Stolz trägt man den Titel „Stadt der Wissenschaft“, es herrscht die geringste Pro-Kopf-Verschuldungen in der Bundesrepublik, die Stadt ist verkehrstechnologischer Forschungsstandort VWs. Die Diesel-Krise fühlt sich sehr weit weg an. Von Problemdruck keine Spur.
Das sieht man auch in der Innenstadt. Knapp vier Wochen vor der Bundestagswahl und neun Wochen vor der vorgezogenen Landtagswahl stehen und hängen zwar alibimäßig die Wahlplakate der großen Parteien in der Stadt. Erstaunlicherweise keine von der AfD, die bei den letzten Kommunalwahlen noch große Siegerin war.
„Kein richtiges Wahlkampfthema“
Aber in den Fußgängerzonen sucht man Stände der kandidierenden Parteien vergebens. Der Kioskbesitzer sagt: „In Braunschweig gibt es meines Wissens kein richtiges Wahlkampfthema“. Die Buchhändlerin sagt: „Noch geht’s uns ganz gut.“ Kaum jemand auf den Straßen zweifelt daran, dass die Wahl bereits entschieden sei.
Genauso in der Stadthalle: Die Kanzlerin betritt die Bühne und die Unions-Frauen jubeln frenetisch. Sie feiern Angela Merkel, als hätte diese bereits gewonnen. Merkel spricht in ihrer Rede von Frauenquote und Kindergartenplätzen. Sie sagt Altbewährtes, alles klingt nach „Weiter so!“. Konkrete Versprechen scheinen nicht entscheidend – der Applaus des Publikums ist ihr nach jeder Aussage ohnehin sicher.
„Noch nie haben so viele geklatscht“, sagt eine Delegierte. Merkels Frauen nehmen die Worte begierig auf. Die Braunschweiger Erklärung mit den familien- und frauenpolitischen Wünschen an die kommende Regierung steht zur Abstimmung und wird wenig überraschen einstimmig verabschiedet.
Auch ein Mann bekommt ein wenig Bühnenzeit auf dem Frauendelegiertentag – der niedersächsische CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann, anlässlich der Landtagswahl am 15. Oktober: Er erntet tosenden Applaus bei seiner Ankündigung, dass sich die weibliche Hälfte der niedersächsischen Bevölkerung in seinem zukünftigen Kabinett widerspiegeln solle – wie nobel von ihm. An seine Niederlage glaubt im Publikum niemand.
Weltall zu Gast
Krönender Abschluss der überschwänglichen Einigkeit ist das Statement von Dorothea Schittenhelmder, der obersten Frau der Österreichischen Volkspartei: „Nicht nur Deutschland, nicht nur Europa, nein, die Welt braucht Angela Merkel.“ Das Weltall ist übrigens durch Nicola Baumann, der Bewerberin als erste deutsche Astronautin auf der Internationalen Raumstation, ebenfalls vertreten.
Und der VW-Skandal? Er bleibt nur eine Randnotiz an diesem Tag. „Von hier ist ja Wolfsburg nicht weit. Arbeitsplätze der Zukunft werden sich wandeln“, so Merkel merkellike unkonkret. Macht nicht gerade dieser bevorstehende industrielle Wandel die lethargische Wahlkampfstimmung der Stadt so verwunderlich? Hier, wo alle vom Volkswagenkonzern, dessen Zulieferern und der Kaufkraft der VW-Mitarbeiter abhängig sind – und die seit 2015 anschwellende VW-Dieselaffäre genügend Zündstoff für politischen Missmut böte.
Das ansässige VW-Werk entließ sämtliche Leiharbeiter, die bevorstehende Umstrukturierung zum Kompetenzcenter für E-Mobilität verlangt den Arbeitern viel Flexibilität ab und die öffentlichen Finanzen leiden wie in der gesamten Metropolregion um Wolfsburg.
Wer sich Veränderung wünscht, flüchtet sich in Braunschweig ins Lokale. Engagiert sich in Initiativen für mehr Fahrradwege, besseren Nahverkehr oder bezahlbare Mieten. Braunschweig scheint kurz vor den Bundestagswahlen zu warten: Entweder darauf, dass das Schwächeln des VW-Konzerns und der Frust darüber eine kritische Schwelle übersteigt oder darauf, dass alles zum Alten zurückkehrt. Und die Autos mit WOB-Kennzeichen weiter das Stadtbild beherrschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe