Brasiliens Evangelikale und Corona: Wettern gegen das Virus
Kirchen sind genauso wichtig wie Krankenhäuser, finden Brasiliens Evangelikale. Wie der rechte Präsident Bolsonaro schimpfen sie auf die Schließungen.
Im größten katholischen Land der Welt haben evangelikale Kirchen seit Jahren regen Zulauf. Laut Berechnungen werden die Evangelikalen im Jahr 2032 die Mehrheit der Bevölkerung stellen. An fast jeder Straßenecke finden sich mittlerweile die kleinen Kirchen, oft reichen ein paar Plastikstühle und ein Mikrophon mit Boxen für ihre lautstarken und emotionalen Predigten.
Ähnlich wie in den USA gibt es jedoch auch riesige, hochmoderne Prestigebauten. Im Salomon-Tempel in São Paulo, der sogar einen eigenen Hubschrauberlandplatz und ein TV-Studio hat, beten mehr als 10.000 Gläubige in Stadionatmosphäre. Die Gemeinden nehmen auch zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss und haben mit einem Zusammenschluss streng-gläubiger Abgeordneter eine parteiübergreifende Interessenvertretung im Kongress.
In Zeiten der Corona-Krise rücken die Bibeltreuen zusammen. Per Dekret wurde in vielen Bundesstaaten der Ausnahmezustand verhängt und Kirchen geschlossen. Während einige Gemeinden ihren Pforten vorübergehend schlossen und nun Online-Gottesdienste anbieten, ziehen andere gegen die Maßnahmen offensiv ins Feld – mit Pastor Malafaia an der Spitze.
Alle großen evangelikalen Kirchen haben Bolsonaro unterstützt
„In dieser Pandemie werden keine Krankenhäuser die Menschen beruhigen, sondern die Religionen“, erklärt Malafaia, Gründer der „Versammlung Gottes“, in einem seiner Videos. Unverantwortlich sei es Kirchen zu schließen, da sie den Menschen wichtige emotionale Unterstützung leisteten. Erst nach einem Gerichtsbeschluss ließ er die Türen seiner landesweit vertretenden Kirchen schließen.
Rückendeckung bekommen die Evangelikalen von Präsident Jair Bolsonaro. Dieser brachte ein Dekret auf den Weg, das Kirchen als „notwendige Dienstleistungen“ einstuft. Das Dekret wurde nach kurzer Zeit von der Justiz kassiert, doch die Message Bolsonaros war angekommen: Ich stehe hinter euch.
„Bei der letzten Wahl haben alle großen evangelikalen Kirchen gemeinsam einen Kandidaten unterstützt – nämlich Bolsonaro. Das gab es zuvor noch nie“, sagt Andrea Dip, Investigativ-Journalistin des Enthüllungsmediums Agência Pública, der taz.
Bolsonaro, der eigentlich katholisch ist, hatte im Wahlkampf die Nähe zu den Evangelikalen gesucht. Er ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, war umjubelter Stargast bei evangelikalen Veranstaltungen und wurde von Pastor Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. Durch diesen Schachtzug konnte sich Bolsonaro die Unterstützung vieler armer Brasilianer*innen sichern. Denn die Freikirchen sind mit ihren Heilsversprechen, charismatischen Predigern und spektakulären Megagottesdiensten gerade in den vom Staat vernachlässigten Randgebieten beliebt.
Gegen Kommunismus, Homosexualität und Feminismus
Malafaia und Co. inszenieren sich gerne als Anwälte der Armen. „Das ist ein Marketing-Trick und der einfachste Weg um, neue Mitglieder zu gewinnen“, sagt die Journalistin Dip, die ein Buch über den Einfluss der Evangelikalen geschrieben hat. In der aktuellen Corona-Krise stellen sich die Pastoren selbstbewusst hinter Präsident Bolsonaro, der mit Hinblick auf die drohende Rezession eine Rückkehr zur Normalität gefordert hatte. Viele Expert*innen rechnen mit einer Gesundheitskatastrophe für das größte Land Lateinamerikas, sollten keine Isolationsmaßnahmen ergriffen werden.
Andere Pastoren, wie der ebenfalls landesweit bekannte Edir Macedo, nutzen die Krise geschickt für ihre Zwecke. Der Gründer der Universalkirche des Königreichs Gottes sagte nicht nur, dass Corona eine „Strategie Satans und der Medien“ sei, um die Menschen in Panik zu versetzen. Macedo erklärte auch, dass der Glauben die beste Medizin gegen das Virus sei.
Paulo Junior ging noch weiter: Der Pastor aus São Paulo schwadronierte, Europa sei das Epizentrum der Pandemie, weil es ein „post-christlicher Kontinent“ sei und dort „Atheismus, Islamismus und Homosexualismus“ herrsche. Laut Dip stehe hinter solchen Aussagen eine klare Taktik. „Die Kirchen haben drei große Feinde: Kommunismus, Homosexualität und Feminismus“, sagt die Journalistin. „Sie benutzen alles, was sie als Munition dagegen bekommen können – nun eben das Corona-Virus.“
Und auch finanzielle Interesse treiben viele Pastoren an. Da die überwiegende Mehrheit der Gläubigen zehn Prozent ihres Einkommens als Abgabe entrichtet, sind die Kirchen auch ein enormer ökonomischer Faktor. Sie stehen schon lange im Verdacht ihre Mitglieder schamlos auszubeuten und Gelder zu veruntreuen.
In der aktuellen Corona-Krise, die von den Evangelikalen als „Plage“ bezeichnet wird, beziehen sich viele Pastoren auf Stellen in der Bibel, in denen Gott Menschen gegen Opfergaben von Sünden freispricht. Die Botschaft vieler Kirchen in der Pandemie: Wenn ihr uns bezahlt, kriegt ihr kein Corona. Einige Kirchen boten sogar Gottesdienste zur Massenimmunisierung mit einem „heiligen Öl“ an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“