Brandenburg: Neue Wildnis im Oderbruch
Im 18. Jahrhundert war die Trockenlegung des Oderbruchs der Beginn der Umgestaltung der Landschaft in ganz Deutschland. Nun ist seine Zukunft unsicherer denn je.
In seinem Mammutwerk über die Geschichte der deutschen Landschaft sieht der US-Historiker David Blackbourn die Trockenlegung des Oderbruchs durch Friedrich II. als Startschuss für eine epochale Umgestaltung der Landschaft. Die spätere Begradigung des Oberrheins durch Johann Gottfried Tulla oder die Entwässerung des Jadebusens und die Gründung von Wilhelmshaven als Standort für die deutsche Kriegsmarine waren für den Direktor des Center for European Studies an der Harvard-Universität nur die logische Konsequenz aus diesem ersten Schlachtfeld im Kampf des Menschen gegen die Natur im 18. Jahrhundert. "Ländereien urbar zu machen beschäftigt mich mehr als Menschenmordungen", zitiert Blackbourn Friedrich II. Und kommt zum Schluss: "Aus der Rückschau war das Oderbruch die Region, in der alles begann."
In der deutschen Perspektive ist die Trockenlegung jener Sumpflandschaft zwischen Lebus und Oderberg, in der einmal Wölfe, Bären und Millionen von Mücken lebten, eine Großtat der Moderne. Die größte Landschaftsbaustelle des 18. Jahrhunderts, in der von 1747 bis 1753 Tausende von Arbeitern und Soldaten der Oder von Güstebiese bis Hohensaaten ein neues Bett schaufelten, den Lauf des Flusses um 24 Kilometer verkürzten, neue Deiche auftürmten und die Sumpflandschaft mit Kanälen und Gräben entwässerten, gehört zu den herausragenden Leistungen preußischer Zivilisation und Modernisierung - und trug ebenso wie die militärischen Erfolge dazu bei, Friedrich als "Großen" zu verehren. Noch heute steht sein Konterfei in zahlreichen Dörfern im Oderbruch.
Für Blackbourn dagegen ist die Trockenlegung des Oderbruchs auch ein Sündenfall - der Beginn der Eroberung der Natur durch den Menschen mit all den Ambivalenzen, die diese in den Jahrhunderten danach mit sich brachte. Vor allem aber ist das Oderbruch in seiner heutigen Gestalt für Blackbourn nicht das letzte Wort der Geschichte. Schließlich ist Landschaft, so das Credo des Historikers, nichts für die Ewigkeit. Landschaft ist immer auch ein Abbild des Umgangs des Menschen mit seiner - inneren wie äußeren - Natur.
Wie der Mensch mit der Natur des Oderbruchs umgeht, ist auch das Thema von Kenneth Anders und Lars Fischer. 2004 gründeten die beiden Kulturwissenschaftler, die in Bad Freienwalde und Eberswalde leben, ein "Büro für Landschaftskommunikation", aus dem später der "Oderbruchpavillon" hervorging - eine Kommunikationsplattform, die sich neue Blicke und Perspektiven auf das Oderbruch zum Ziel gesetzt hat.
Seit einigen Wochen aber ist die Kommunikation zum Stillstand gekommen. Für zahlreiche Bürger und Bürgermeister aus dem Oderbruch gelten Anders und Fischer neuerdings als Nestbeschmutzer. Dabei haben sie nur getan, wozu ihnen David Blackbourn die Vorlage geliefert hat: Landschaft als Produkt der Geschichte zu begreifen und dieses in die Zukunft hinein zu verlängern.
Im Auftrag von Brandenburgs Landwirtschaftsminister Dietmar Woidke (SPD) haben Anders und Fischer vier Szenarien für die Zukunft des Oderbruchs entwickelt. Drei der vier Prognosen ist gemeinsam, dass sie eine Absage sind ans "Weiter so". Im Szenario "Intensivierung" erobert die Biomasse das Oderbruch, schnellwachsende Weiden und "Chinaschilf" ersetzen den bisherigen Anbau von Kartoffeln und Gemüse. Infolgedessen bricht der Tourismus ein, die Eisenbahnverbindungen werden eingestellt, Böden und Grundwasser sind mit Düngemitteln verseucht.
Nicht viel optimistischer ist das Szenario "Extensivierung". Weil die Entwässerung der Niederungslandschaft zu teuer geworden ist, lässt die Landesregierung weite Teile des Bruchs vernässen. Weidewirtschaft und Fischerei erleben eine Renaissance. Um den rasanten Bevölkerungsverlust aufzuhalten, setzt die Landesregierung auf eine "Disneylandisierung" des Oderbruchs. Auch der Naturschutz muss deshalb zurücktreten.
Die düsterste Prognose freilich hält das Szenario "Katastrophe" bereit. Erneut kommt es zu einer Jahrhundertflut an der Oder. Anders als 1997 beschließt die Landesregierung jedoch, das Oderbruch aufzugeben und die Bevölkerung umzusiedeln. Doch auch die Bundeswehr kann nicht verhindern, dass zahlreiche Bewohner zurückkehren und wilde Siedlungen auf Subsistenzbasis gründen. Darüber hinaus rufen Aktivisten die "Freie Republik Oderbruch" aus. Weil die Hochwasser jedes Jahr im Sommer und Winter das Bruch fluten, haben die Siedler ihre Häuser auf Warften errichtet - wie vor der Trockenlegung im 18. Jahrhundert.
Demgegenüber wirkt das Szenario "Kulturlandschaft" beinahe harmlos. Um den Bevölkerungsschwund zu stoppen, vernetzen sich die Akteure und setzen auf Kulturtourismus. Sogenannte Raumpioniere sorgen für Innovation und die nötige Verjüngung, Deutsche und Polen basteln gemeinsam an regionalen Wirtschaftskonzepten. Selbst die Eisenbahnverbindung bleibt erhalten.
Aber auch das "Kulturlandschaftsszenario" hat nicht verhindern können, dass zahlreiche Oderbrüchler auf die Barrikaden gingen. "Es scheint, als gäbe es Bemühungen aus verschiedenen Richtungen, den Grenzraum tatsächlich langsam aussterben zu lassen, indem unsere Region ständig nur schlechtgeredet wird", klagt der Ortsbürgermeister von Neureetz; die ehrenamtliche Bürgermeisterin der Gemeinde Oderaue fordert in einem offenen Brief: "Nach 250 Jahren Kulturlandschaft Oderbruch werden wir nicht kneifen, wir werden uns nicht vertreiben lassen, und wir werden Menschen Mut machen, zu bleiben oder sich bei uns anzusiedeln."
Die Reaktionen haben auch Kenneth Anders und Lars Fischer überrascht. "Offenbar leben die Menschen im Oderbruch ständig mit der Angst vor einer neuen Katastrophe. Und offenbar wird diese Angst permanent verdrängt", erklärt sich Anders die Vorwürfe der Bürgermeister. Vor den Kopf stoßen wollten die Initiatoren des Projekts "Oderbruchfiktionen" die Bewohner allerdings nicht. "Wir haben den Menschen vor Ort vier Jahre lang zugehört, haben ihre Positionen bei uns auf die Website genommen, haben versucht, den Dialog zu moderieren." Gerade auch weil es viele positive Reaktionen auf die Szenarien gegeben hat, ist Kenneth Anders überzeugt: "Die Antworten nach dem Schicksal einer Landschaft sind in der Landschaft selbst zu finden." Aber offenbar gibt es im Oderbruch, mutmaßt er, "nur wenig Bewusstsein dafür, welche Triebkräfte hier wirken."
Für Anders dagegen ist klar, dass die Zukunft, die die Szenarien beschreiben, an der Oder längst begonnen hat. "Extensivierungs- und Intensivierungsstrategien gehen Hand in Hand", hat er beobachtet. Tatsächlich ist das Oderbruch inzwischen Heimat für zahlreiche Raumpioniere wie auch Versuchsfeld für den Anbau von gentechnisch verändertem Mais. So wie die Trockenlegung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert das Paradigma eines neuen Landschaftstyps hervorgebracht hat, zeichnet sich 250 Jahre später im Zeichen der Schrumpfungsdebatte ein neues Paradigma ab - das Nebeneinander verschiedener Nutzungsstrategien. So gesehen liegen Kenneth Anders und Lars Fischer mit ihren Szenarien ganz auf der Höhe der Debatte - ob die Bürgermeister das wahrhaben wollen oder nicht.
Unterstützung bekommen Anders und Fischer auch von der Fachhochschule Eberswalde. "Die Methode ist wissenschaftlich legitim", versichert Uta Steinhardt, Dekanin des Fachbereichs Landschaftsnutzung und Naturschutz. "Die Szenarien, mit denen die Zukunft des Oderbruchs beschrieben werden, sind sicher keine Prognosen. Aber sie beschreiben genau die Entwicklungen, die es dort gibt."
Die Kontroversen, die sich daraus ergeben, findet Steinhardt äußerst produktiv. "Gerade was die Intensivierung landwirtschaftlicher Nutzung betrifft, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir dem Thema Biomasse nicht ebenso blauäugig folgen wie vor einigen Jahrzehnten der Atomkraft." Das Gleiche gelte aber auch für die Verfechter der Kulturlandschaft. "Es kann nicht sein, dass sich ein Biosphärenreservat gegen den Bau von Windrädern wehrt." Mehr Debatte und weniger "Schwarz-Weiß-Denken" wünscht sich Steinhardt deshalb. Das gilt auch für das Thema Extensivierung: "Gerade nach den Hochwassern an der Oder und der Elbe wären Deichrückverlegungen das Gebot der Stunde. Das wenige, das in dieser Richtung unternommen wird, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein."
Wenn das Oderbruch für Blackbourn "die Region ist, in der alles begann", wird es dann auch die Region sein, in der diese Geschichte der Landschaft endet? Nein, meint der Harvard-Historiker und erteilt allen Verfechtern einer "neuen Wildnis" eine klare Absage. Vielmehr stelle sich die Frage, wie die verschiedenen Formen der Landschaftsnutzung miteinander in Einklang gebracht werden. "Es ist kein grüner utopischer Traum, zu glauben", meint er, "dass es Raum genug gibt für Nahrungsmittelproduktion und Storchennester, dass eine ökologisch nachhaltige Landwirtschaft mit einer sukzessiven Renaturierung einiger Uferzonen als Feuchtbiotop verbunden werden kann."
Aber auch Blackbourn weiß: Es kann anders kommen. Was im 18. Jahrhundert ökonomisch sinnvoll war, ist heute aufwändig, schwer zu unterhalten und teuer. So gesehen sollten die Bürgermeister des Oderbruchs den Kulturwissenschaftlern Anders und Fischer dankbar sein. Nicht nur das Kulturlandschaftsszenario, auch die Szenarien Intensivierung und Extensivierung liefern Argumente dafür, warum die öffentliche Hand auch weiter in den Betrieb des Oderbruchs investieren soll.
Streng fiskalisch betrachtet, stünde schließlich auch anderes zur Debatte: zumachen, schließen, dem Wasser überlassen. Der "Eroberung der Natur", wie Blackbourn sein Buch genannt hat, würde im Oderbruch die "Eroberung der Landschaft" folgen. Zumindest die Wölfe warten schon darauf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!