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Brandenburg-Wahl und die GrünenEin Rettungsanker namens Artikel 3

Die Grünen könnten in Brandenburg an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Ein einziger gewonnener Wahlkreis aber würde die Hürde außer Kraft setzen.

Und Action: Antje Töpfer und Benjamin Raschke, Grünen-Spitzenkandidaten für die Brandenburger Landtagswahl, mit ihrem Wahlplakat Foto: IMAGO/Martin Müller

Potsdam taz | Ein früher Vormittag Ende Juni in Potsdam. Gut ein Dutzend meist jüngerer Menschen wuselt über den Alten Markt in Potsdam, den Platz zwischen dem Landtag, den Monets des Barberini-Museums und der Nicolaikirche, richtet Stellwände aus, zupft hie und da etwas zurecht. Nebeneinander sind da 12 Plakate aufgebaut, mit denen die Brandenburger Grünen vor der Landtagswahl am 22. September für sich werben wollen. Im ganzen Land sollen sie zu sehen sein, von der Uckermark bis zur Lausitz.

Doch ob die Partei es wieder ins Parlament schaffen wird, könnte sich allein im direkten Umfeld des Alten Markts entscheiden. Denn wenn die Grünen unter der 5-Prozent-Hürde bleiben, aber wieder wie 2019 den örtlichen Wahlkreis gewinnen, hält sie eine Besonderheit des brandenburgischen Wahlrechts im Parlament: Artikel 3, Absatz 1 – eine Klausel, die die 5-Prozent-Hürde aushebelt.

Niemand aus der Parteiführung, die an diesem Vormittag mit den Spitzenkandidaten Benjamin Raschke und Antje Töpfer die Kampagne vorstellt, mag es offen sagen, dass man darauf angewiesen sein könnte, im Gegenteil. Möglichst „nahe am Wahlergebnis von 2019 zu landen“, sagt die Landesvorsitzende Hanna Große Holtrup auf die taz-Frage, wo sich ihre Partei denn am Wahlabend in kaum 3 Monaten sieht. 10,8 Prozent waren das damals – und ein Rekordergebnis für die Brandenburger Grünen.

Das erreichten sie aber in Befragungen zuletzt Ende 2022. Seither gehen ihre Werte fast kontinuierlich nach unten. Bei gerade mal 7 Prozent sah sie eine Umfrage im Mai noch, bei der Europawahl rutschten sie sogar auf 6 Prozent ab – 2019 waren es noch mehr als doppelt so viel. Und bei der Landtagswahl kurz darauf mussten die Grünen vor fünf Jahren erleben, dass sie gerade in den letzten Wochen vor der Wahl noch zahlreiche Stimmen an die SPD verloren – in Umfragen hatten sie zeitweise 17 Prozent erreicht.

Brandenburger Verhältnisse

Brandenburg wählt am 22. September einen neuen Landtag, 3 Wochen nach Thüringen und Sachsen. In der jüngsten – allerdings auch schon über 5 Wochen alten – Umfrage lag die AfD mit 25 Prozent vor der SPD und der CDU mit jeweils 19 Prozent. Auch bei den Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni dominierte die AfD. Bei der Landtagswahl 2019 siegte die SPD vor der AfD und bildete mit CDU und Grünen ein rot-schwarz-grünes Bündnis: die wegen der Parteifarben so genannte und zuvor nur in Sachsen-Anhalt ausprobierte Kenia-Koalition. Für die Grünen war es die erste Regierungsbeteiligung seit 1994. (sta)

„Mehr Mut“ steht an der Oberkante

Denn SPD-Spitzenmann und Ministerpräsident Dietmar Woidke fordert – zugespitzt gesagt –, alle Demokraten auf, sich hinter ihm zu versammeln und den Wahlsieg nicht der AfD zu überlassen. Und war damit erfolgreich. Das ist auch dieses Mal von der SPD zu erwarten, die trotz klaren Umfragerückstands den Wahlsieg als Ziel ausgibt.

„Mehr Mut“ steht an der Oberkante auf jedem der 12 Plakate, die die Grünen in Potsdam vorstellen, während rechts am Rand senkrecht „einander“ steht. Es ist eines jener Wortspiele, an denen sich die Grünen nicht nur in Brandenburg immer mal wieder versuchen und soll für eine mutiges Miteinander in einem Land stehen, in dem die AfD bei der Europawahl wie auch der Kommunalwahl am 9. Juni klar stärkste Kraft wurde.

Mut scheint jedenfalls jener Frau nicht zu fehlen, die das Überleben der Grünen im Landtag sichern könnte. Marie Schäffer wirkt zumindest nicht so, als würde sie unter einer imaginären Last zusammenbrechen, als sie die taz am Rand der Plakatpräsentation trifft. „Ich hoffe mal nicht“, sagt sie zu der Möglichkeit, dass das Grünen-Schicksal an ihrem Wahlkreissieg hängt.

Schäffer, mit 33 die Zweitjüngste in der 10-köpfigen Grünen-Landtagsfraktion, parlamentarische Geschäftsführerin und Sprecherin für Inneres, Asyl und Digitales, hat in der zu Ende gehenden Wahlperiode zwar keine großen Schlagzeilen gemacht, die taz hat sie in dieser Zeit laut Archiv 5-mal erwähnt. 2019 aber war ihr Direktmandat im Wahlkreis Potsdam I, das erste für die brandenburgischen Grünen überhaupt, die größte Überraschung am Wahlabend. Sie gewann nämlich gegen das damals nach Woidke bekannteste brandenburgische Gesicht der SPD, Klara Geywitz. Die hatte den Wahlkreis zuvor 3-mal gewonnen und strebte 2019 mit Olaf Scholz den SPD-Vorsitz an.

Das macht die Sache nicht leichter

Heute ist Geywitz Bundesbauministerin, aber das macht die Sache für die Grüne nicht leichter: Ihre neue Gegenkandidatin ist Manja Schüle, die Wissenschafts- und Kulturministerin des Landes. Da werde sie ganz schön zu tun haben, gegen deren Bekanntheitsgrad anzukommen, sagt Schäffer der taz.

2019 war es nur ein Prestigeerfolg für die brandenburgischen Grünen, knapp 30 Jahre nach der Wende erstmals einen Wahlkreis direkt zu gewinnen, weil sie landesweit auf fast 11 Prozent der Zweitstimmen und sicher ins Parlament kamen. Nun aber, angesichts des gesunkenen Rückhalts, bekommt der besagte Artikel 3 des Wahlgesetzes höchst praktische Bedeutung. Der besagt nämlich: Wer unter der eigentlich geltenden 5-Prozent-Hürde bleibt, aber einen Wahlkreis gewinnt, bekommt auch mit 4,9 Prozent oder weniger entsprechend viele Sitze im Landtag.

Diese Regelung gibt es nur noch in zwei anderen Bundesländer: in Berlin und Schleswig-Holstein. Sachsen, wo am 1. September wie in Thüringen gewählt wird, hat ebenfalls eine Sonderregelung, aber dort sind zwei Wahlkreissiege nötig.

Diese Regelung gibt es nur noch in Berlin und Schleswig-Holtstein

„Grundmandatsklausel“ heißt dieser Rettungsanker. Auf Bundesebene, dort mit mindestens 3 Direktmandaten, verhalf er 2021 der Linkspartei trotz nur 4,9 Prozent zum Verbleib im Bundestag. Nach einer Gesetzesreform ist das bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr möglich, wogegen es aber eine Klage gibt. In Brandenburg sieht es nicht so aus, als ob sich die Linkspartei, in der jüngsten Umfrage nur noch bei 6 Prozent, hier ebenfalls auf diesem Weg retten könnte: Schon 2019, damals noch deutlich stärker, gewann sie keinen einzigen Wahlkreis mehr.

„Wir wollen weiter mitregieren“

„Unser Ziel ist es, dass wir das Direktmandat von Marie Schäffer verteidigen“, ist von Parteichefin Große Holtrup bei der Potsdamer Plakatvorstellung zu hören. Aber nicht mit einer Konzentration von Mitteln und Personal: „Eine direkt auf den Wahlkreis von Marie Schäffer zugeschnittene Kampagne wird es nicht geben“, sagt sie der taz.

Dieser Wahlkreis umfasst das meiste von dem, was Auswärtige üblicherweise mit Potsdam verbinden: die historische Innenstadt, das holländische Viertel, Schloss Sanssouci genauso wie Babelsberg mit seinem links-alternativ angehauchten Fußball-Regionallisten, den der Tagesspiegel mal „St. Pauli des Ostens“ nannte. Schäffers Büro ist nur 600 Meter vom Alten Markt entfernt, auch Außenministerin Annalena Baerbock, die in Potsdam bei der Bundestagswahl kandidierte, hat dort ihre örtliche Anlaufstelle.

Falls sich die Grünen, die aktuell 2 Minister stellen, am 22. September im Parlament halten, ist damit aber erst ein Teilziel erreicht. Parteichefin Hanna Große Holtrup nimmt gegenüber der taz die Frage vorweg: „Das möchten Sie ja bestimmt auch noch wissen: Wir wollen weiter mitregieren.“

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