Boxerinnen im Aufschwung: Keimling im Sumpf
Nadine Apetz kämpft zum Abschluss ihrer Karriere als erste deutsche Boxerin bei Olympia. Ihre Niederlage ist dabei Teil eines umfassenderen Sieges.
Für ihre letzten Worte nach dem Wettkampf erhielt Nadine Apetz herzhaften Applaus. Höchstwahrscheinlich hatten die klatschenden japanischen Volunteers am Rande der Interviewzone nicht ein Wort verstanden. Aber um die Emotionen, die hier zum Ausbruch kamen, zu verstehen, brauchte man keine Sprachkenntnisse. Immer wieder versagte der deutschen Boxerin die Stimme, und auch den Kampf gegen die Tränen konnte sie nicht gewinnen.
Äußerst knapp war sie zuvor ihrer indischen Gegnerin Lovlina Borgohain in ihrem ersten olympischen Kampf unterlegen gewesen. Zwei der fünf Kampfrichter hatten in allen drei Runden sie als Siegerin gesehen, aber das reicht nun mal nicht. Apetz selbst hatte jede Runde des Kampfes im Weltergewicht anders gesehen.
Nadine Apetz
In der ersten habe sie mit viel Respekt gekämpft, in der zweiten habe sie sich wohl gefühlt und in der dritten das Gefühl, eigentlich genug Druck zu machen. „Manchmal kommt es ein bisschen auf die Präferenz der Ringrichter an, ob sie die Defensive oder die Offensive besser finden“ Wenn es eng wird, ist es beim Boxen eben auch Geschmackssache, wem der Sieg zugesprochen wird. Zur Folge hatte dies für Apetz, dass ihr Olympia-Auftritt schon nach neun Minuten vorüber war.
„Eine Riesenenttäuschung“
„Die Riesenenttäuschung“ allein war aber nicht der Grund, warum Apetz mit ihrer Fassung rang. Sie war keine schlechte Verliererin. Sie stellte klar: „Es war keine Fehltentscheidung.“ Die 35-Jährige war auch deshalb so bewegt, weil in der Kokugikan Arena etwas Großes angefangen und etwas Großes aufgehört hatte.
Es mache sie natürlich stolz, dass sie die erste deutsche Boxerin sei, die es zu den Olympischen Spielen geschafft habe, sagte sie. Zum anderen realisierte sie in diesem Moment, den letzten Kampf auf großer Bühne geboten zu haben und das noch auf der „größten Bühne im Sport überhaupt“. Sie sagte: „Seit 2014 habe ich alles ins Boxen gesteckt, viel Schweiß, Tränen, Blut, Zeit, viele Opfer gebracht. Da fällt natürlich jetzt schon einiges ab.“
Nun will sie endlich ihre Doktorarbeit in Neurowissenschaften schreiben und nur noch „hobbymäßig“ die Handschuhe anziehen.
Korrupter Weltverband
Als die Kölnerin ihr Studium begann, suchte sie nach einem Ausgleichssport und fing im Alter von 21 Jahren mit dem Boxen an. Das sind nicht unbedingt die klassischen Daten einer Olympiakarriere. Aber an der Geschichte von Apetz lässt sich auch kurz die Entwicklung des Frauenboxens in dieser Zeit skizzieren. Als sie erstmals Boxhandschuhe anzog, war Frauenboxen noch nicht einmal olympisch. Die Premiere mit 12 Boxerinnen gab es erst bei den Spielen in London 2012. In Tokio sind nun 100 Boxerinnen und 288 Boxer am Start, und bei den Spielen 2024 strebt man ein in etwa ausgeglichenes Verhältnis an.
Für den Weltverband Aiba ist die späte und nicht ganz freiwillige Entdeckung der Gleichstellungsfrage zugleich vielleicht die letzte Chance, das arg ramponierte Image aufzubessern, um nicht in völlige Ungnade beim IOC zu fallen und damit auch aus dem olympischen Programm. Wegen höchst korruptionsverdächtiger Kampfrichter-Entscheidungen bei den Olympischen Spielen in Rio hat der IOC seine Fördergelder für die Aiba eingefroren und die Organisation des Olympiaturniers in Tokio selbst übernommen.
Zudem wurden 34 Startplätze gestrichen, nur der noch mehr Skandalgeschichten zu bietende Verband der Gewichtheber musste größere Kürzungen hinnehmen. Die Wahl von Umar Kremlev zum Aiba-Präsidenten im Dezember vergangenen Jahres ließ den Argwohn gegenüber dem Boxweltverband nicht unbedingt kleiner werden. Sein Versprechen, die 16 Millionen Schulden der Aiba im Erfolgsfalle zu begleichen, hatte den Russen ins Amt gebracht. Seitdem spricht er unentwegt davon, im Zuge eines Reformprozesses die Aiba zu einem der besten Sportverbände auf der Welt zu formen. Nur hat er selbst in der Zeit der schmutzigen Deals im Exekutivkomitee der Aiba einen Posten gehabt.
Den Wert des Frauenboxens kann man in dieser Lage für den Weltverband gar nicht hoch genug einschätzen. Aber der Nachholbedarf ist groß. Das sieht man auch am Beispiel des Deutschen Boxsport-Verbands. Derzeit genießen 54 Männer und 15 Frauen im Bundeskader eine besondere Förderung durch den Verband, der Frauenboxen erst 1995 auf einer Sitzung mit knapper Mehrheit überhaupt erlaubte.
Seither hat sich zwar manches getan, aber in den letzten Jahren tun sich auch immer wieder Abgründe im deutschen Frauenboxen auf. Nachdem eine Leistungsboxerin ihren Hamburger Trainer wegen sexuellen Missbrauchs anzeigte, gründeten ein paar Boxerinnen die Kampagne „Coach, don’t touch me“, weil sie auf ein strukturelles Problem aufmerksam machen wollten. Am Heidelberger Stützpunkt wurde gegen drei Trainer wegen sexueller Übergriffe ermittelt. Zwei Verfahren wurden im Frühjahr mit der Begründung eingestellt, dass man die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung als gering einstuft.
In Tokio sprach Apetz, also die vom großen Ende und Anfang so emotionalisierte wieder unter Tränen die Hoffnung aus, mit dem späten Höhepunkt ihrer Karriere vielleicht die eine oder andere inspiriert zu haben, mit dem Boxen anzufangen und „in ihre Fußstapfen zu treten“. Spätestens nachdem die deutschen Boxerinnen bei der WM 2018 zwei Medaillen gewonnen hätten, sei man „auf dem Zettel“ des Verbandes. Wir haben es verdient, dass man uns ebenbürtig fördert.“
Vielleicht würde ja 2024 bei den Olympischen Spielen in Paris eine deutsche Boxerin eine Medaille holen.
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