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Botaniker über Hamburgs Flora„Jede Pflanze hat ihre Geschichte“

Kaum jemand kennt Hamburgs Flora besser als Hans-Helmut Poppendieck. Ein Gespräch über Blüten und die Konkurrenz in der Großstadt.

Ist in die Arbeit mit den Pflanzen „reingerutscht“: Hans-Helmut Poppendieck Foto: Miguel Ferraz
André Zuschlag
Interview von André Zuschlag

taz: Herr Poppendieck, warum regen sich in Hamburg so viele Menschen über eine Pflanze namens Schierlings-Wasserfenchel auf?

Hans-Helmut Poppendieck: Der Schierlings-Wasserfenchel ist aufgrund seines begrenzten Verbreitungsgebiets sehr selten. Und die Pflanze ist durch europäisches Recht geschützt. Das bedeutet, dass sowohl die Hansestadt Hamburg als auch die Bundesrepublik zum Schutz verpflichtet sind. Aber diesen Schutz haben eben die verschiedenen Elbvertiefungen immer wieder infrage gestellt. Und somit hat der seltene Schierlings-Wasserfenchel auch immer wieder diese Elbvertiefungsvorhaben infrage gestellt.

Was ist denn so besonders an der Pflanze?

Jede Pflanze ist besonders und hat ihre eigene Geschichte. Sie steht auch nicht für sich selbst, sondern im Fall des Schierlings-Wasserfenchels für das gesamte Tide-Elbgebiet. Deshalb gibt die Pflanze Anzeichen: Geht es ihr gut, ist das ein Indiz für das funktionierende Ökosystem des Gebiets.

Geht es ihr heute gut?

Nicht besonders. Am Hauptvorkommen in Heuckenlock und in Schweenssand haben wir stabile Populationen, ansonsten ist es ein bisschen prekär. Es braucht Bereiche, die keine starken Strömungen haben. Durch die Elbvertiefung hat sich aber das ganze Strömungsregime verändert, sodass es diese beruhigten Bereiche nur noch selten gibt – westlich von Hamburg fast gar nicht mehr. Allerdings: Die Art überhaupt zu finden, ist ja schon schwierig.

Das ist Detektivarbeit?

Im Interview: Hans-Helmut Poppendieck

71, ist Botaniker und Autor mehrerer Bücher wie „Der Botanische Wanderführer für Hamburg und Umgebung“. Seit mittlerweile 38 Jahren ist er Vorsitzender des Botanischen Vereins zu Hamburg.

Ja, das ist immer noch eine ziemliche Detektivarbeit, sie kommt nur in kleinen Bereichen vor dem Schilf vor. Ich kannte die Pflanze seit den 1980er-Jahren. Sobald man anfängt, sich mit Hamburgs Pflanzenwelt zu beschäftigen, ist das eine Art, die man unbedingt einmal gesehen haben will.

Packt Sie dann der Entdeckergeist?

Auf jeden Fall! Wenn ich so eine Pflanze gefunden habe, dann bin ich schon begeistert. Man sucht die Standorte mitunter stundenlang ab und wenn man die Pflanze tatsächlich findet, ist das ein richtiges Erfolgserlebnis.

Was für eine Flora hat Hamburg?

Hamburg ist schon ganz spannend. Eigentlich ist die Flora des norddeutschen Tieflandes nicht so fürchterlich artenreich. Bei uns überlagern sich aber mehrere Trends. Erstens ist Hamburg eine Großstadt mit ganz eigener Flora, wie das für Großstädte typisch ist. Zweitens ist dies hier Süßwasser-Tidegebiet mit vielen Besonderheiten und dann haben wir, drittens, ja die Flora der Elbe, die sich wie an einem Band entlang des Flusses von Mitteldeutschland bis nach Hamburg zieht. Und so kommt dann doch eine relativ große Artenvielfalt zustande. Wir haben das vor einigen Jahren mal in einem großen Pflanzenatlas zusammengetragen …

… der einige hundert Seiten dick ist.

Da sind auch viele beteiligt gewesen, überwiegend ehrenamtlich. Angefangen haben wir 1995, etwa 2008 waren die Arbeiten abgeschlossen und erschienen ist er dann 2010. Nun veraltet so etwas aber langsam. Wir haben jetzt ein neues Programm aufgelegt, in der wir die Standorte der seltenen Arten aufsuchen, die Mengen erfassen und versuchen, das den Behörden und Planungsbüros zur Verfügung zu stellen. Wir wollen ja, dass die Pflanzenstandorte erhalten bleiben.

Wie begann Ihre Leidenschaft für Pflanzen?

Ich bin nicht von frühester Jugend dabei, sondern im Studium dazu gekommen. Ich komme aus Ahrensburg und hatte an der Uni Hamburg einen Job als studentische Hilfskraft bekommen zu einem Kurs über das Bestimmen von Pflanzen. Eine Aufgabe war es, Pflanzenmaterial dafür zu beschaffen, und so bin ich in und um Ahrensburg immer durch die Feldmark gezogen, habe Pflanzen gesammelt und montags zum Bestimmen mit in den Uni-Kurs genommen. Um 1970 konnte man so was noch machen. So bin ich da reingerutscht.

Und dann wurden Sie „Kustos für Phanerogamen“. Was ist das für ein Titel?

Kustos bedeutet Wächter. Derselbe Wortstamm wie in Küster. Gemeint ist aber: Leiter einer wissenschaftlichen Sammlung, in diesem Fall das Herbarium der Universität. Und da war ich zuständig für Phanerogamen. Also für die höheren Pflanzen, die Blüten haben und sich sozusagen öffentlich fortpflanzen. Kryptogamen hingegen sind die Pflanzen, die es im Verborgenen treiben, weil sie keine auffälligen Blüten haben. Also Moose und Farne.

War diese Arbeit im Herbarium nicht einsam?

Einerseits war das sicher eine einsame Arbeit. Man ist umgeben von 1,8 Millionen getrockneten Pflanzen. Andererseits hat man aber auch Kontakt zu vielen Menschen. Das Herbarium wird genutzt von Forschern, die auf der Suche nach einer Pflanze sind oder ein fachliches Pro­blem haben. Und durch die Pflanzen ist man ja auch mit der Außenwelt verknüpft und ebenso durch die Kontakte mit den Menschen. Das ist vergleichbar mit der Arbeit in Archiven.

Welches ist Ihre Lieblingspflanze?

Immer die, mit der ich mich gerade beschäftige. Zu meinen Lieblingen gehören vor allem Frühblüher in Parks, die sogenannten Stinzenpflanzen. Das sind Pflanzen, die an alten Gutshöfen und Parks vorkommen. Vielleicht kennen Sie die Husumer Krokusse. Die kommen eigentlich aus Italien, wurden im 17. oder 18. Jahrhundert beim Husumer Schloss angesiedelt. Spektakulär sind auch die Lauenburger Winterlinge oder die Wildtulpen in den Vierlanden. Gute Gründe, sich aufs Frühjahr zu freuen.

Was zeichnet die Flora von Großstädten, dieses doch eigentlich großteils versiegelten Raumes, aus?

In der Großstadt haben Sie viel mehr sogenannte Störstellen. Das machen sich manche Pflanzen zunutze. Die Störung schafft denen die Konkurrenz vom Hals. Pflanzen, die in diese Nischen und Lücken stoßen, können sich dann gut vermehren.

Welche zum Beispiel?

Die Mäusegerste ist zum Beispiel eine charakteristische Stadtpflanze. Die kommt in Innenstädten vor, wo man nicht alles vollständig zugepflastert hat. Zum anderen ist die Kleinteiligkeit der Stadt charakteristisch. Die Grundstücke sind viel kleiner und die Nutzung ist sehr unterschiedlich. Andererseits hat aber jede Großstadt ihre Eigenheit. Der Umgang der Menschen mit ihrer wilden Flora ist unterschiedlich. Ich war bei einem Kongress in Berlin vor Weihnachten, da ist die Herangehensweise anders. Berlin hat eine größere Vorliebe für wilde Pflanzenwelt, in Hamburg muss es immer alles gepflegt sein.

Das sind jetzt aber Klischees über die beiden Städte.

Man merkt das ja in Berlin etwa am Gleisdreieck oder im Schöneberger Südgelände, das sind wilde städtische Urwälder, die man unter Naturschutz gestellt hat – in Hamburg bislang undenkbar. Der Vollhöfner Wald am südlichen Hafenrand, um den jetzt gestritten wird, ist so ein unberührter städtischer Urwald. Für Hamburg eine einmalige Chance, eine urbane Wildnis zu schützen und zu erhalten.

Was denken Sie, wenn Sie von der drohenden Zerstörung solcher Flächen hören?

In einer Großstadt herrscht große Konkurrenz um die wenigen freien Flächen. Wir haben uns mehrmals schon überlegt, ob aber nicht so etwas wie ein Konzept „Naturschutz auf Zeit“ eine Idee wäre. Wir schützen eine Fläche für zehn Jahre, anschließend wird es bebaut. Am Ende ist es aber eine Frage, wie viel Fläche eine Stadt unversiegelt haben will.

Seit wann kommen bestimmte Pflanzen in Hamburg vor?

Manche erst seit wenigen Jahren. Es gibt immer wieder Pflanzen, die neu einwandern. Andererseits gibt es beispielsweise Pflanzen, die mittelalterliche Flurgrenzen markieren. Die haben sich da bis heute gehalten. Und dass man in einer Großstadt wie Hamburg, wo sich so viel verändert hat, auch Pflanzenvorkommen mit 2.000 oder 3.000 Jahre alter Kontinuität hat, ist Wahnsinn.

Was sind das für Pflanzen?

In diesem Fall ein ganz kleiner unscheinbarer Frühjahrsblüher, der Scheiden-Goldstern. Eine ganz rätselhafte Pflanze. Wir wissen gar nicht, wie die da hingekommen ist, weil sie gar keine Samen macht. Dafür gibt es immer noch keine gute Erklärung.

Kam und kommt denn viel über den Hafen rein?

Also, dass vom Schiff direkt etwas in die Umgebung kommt, wie man sich das vielleicht vorstellt, war eher nicht so. Wohl aber an den Umschlagplätzen und Verarbeitungsbetrieben. Zum Beispiel bei der ehemaligen Wollkämmerei in Wilhelmsburg fanden sich ganz interessante Pflanzen, weil dort die Samen, die sich in der Wolle verhakt hatten, aussortiert und im Zweifel einfach über den Zaun geworfen wurden. Auch das direkte Hafengebiet war botanisch früher sehr interessant, aber letztlich hat die Umstellung auf den Container das beendet. Heute ist die Hafenbotanik ziemlich langweilig.

Da merkt man aber, dass es eine enge Verbindung von menschlicher Geschichte und der Geschichte der Pflanzenwelt gibt, oder?

Es ist immer eine Verbindung aus Kulturgeschichte und Naturgeschichte. Zum Beispiel stellte sich uns irgendwann mal die Frage, ab wann man in Hamburg von einer typisch städtischen Flora sprechen kann. Da war unsere Antwort, dass man ab etwa 1850 davon sprechen kann. Denn in Hamburg lässt sich das auch an einem historischen Ereignis festmachen: dem großen Brand von 1842. Danach musste man den ganzen Schutt loswerden und er wurde nach Hammerbrook und Steinwerder gebracht. Erstmals hat man damit großflächig künstliche Böden geschaffen und damit Lebensräume für neu eingeführte Pflanzen.

Eine andere, aktuelle Verbindung ist der Klimawandel. Sehen Sie ihn schon?

Es gibt interessante Anzeichen: Seit 2014 beobachten wir, anfangs zufällig, Schilf auf Mittelstreifen in den städtischen Straßen. Das kennen wir ja sonst nur am Rande von Teichen. Und eigentlich vermehrt es sich bei uns nicht so leicht, weil es Wärme zur Keimung braucht. Seit 2014 haben wir aber immer relativ warme Frühjahre gehabt. In diesen gepflasterten Mittelstreifen gibt es Moospolster und die halten die Feuchtigkeit. Jetzt gibt es durch die Klimaveränderungen auf den wohl trockensten innerstädtischen Standorten Feuchtpflanzen. Das ist natürlich paradox, aber wahnsinnig spannend.

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1 Kommentar

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  • Oh weia!

    "Kryptogamen [...] sind die Pflanzen, die es im Verborgenen treiben, weil sie keine auffälligen Blüten haben. Also Moose und Farne."

    Kompletter Unfug. Kryptogamen bilden überhaupt keine Blüten. Haben sie auch noch nie getan. Und um aus der halben Wahrheit die ganze zu machen: zu den Kryptogamen gehören nicht nur alle Moose und Farne, sondern auch alle Thallophyten und alle Schachtelhalme.

    "... der Scheiden-Goldstern. Eine ganz rätselhafte Pflanze. Wir wissen gar nicht, wie die da hingekommen ist, weil sie gar keine Samen macht."

    Ebenfalls Unfug. Gagea spathacea bildet durchaus Samen, nur sind die in der Regel nicht keimfähig. Ob am Ende keimfähig oder nicht, die Samen werden immer von Ameisen verschleppt, können also durchaus irgendwo hinkommen.

    "Dafür gibt es immer noch keine gute Erklärung."

    Nochmals Unfug. Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse über die Erstansiedlung, wohl aber eine Reihe plausibler Erklärungen. Es gab schon immer Handel und Wandel. Da können Zwiebeln von einem Wagen gefallen sein, oder aus einen Korb. Es gab schon immer Leute, die einen Bereich des Garten freigegraben haben und die überschüssige Erde in die Landschaft gekippt haben - samt der darin enthalten Pflanzen. Es gab schon immer Leute und es gibt sie noch immer, die Pflanzen nicht mehr im Garten haben wollen und sie dann irgendwohin in die Nachbarschaft umsetzen. Das geht auch mit Zwiebeln. Und da Gagea spathacea keine außergewöhnliche Gartenpflanze ist, ...

    "Spektakulär sind auch die Lauenburger Winterlinge ..."

    Es gibt keine Art, deren Trivialname 'Lauenburger Winterling' wäre. Es handelt sich schlicht um Eranthis hyemalis. Dass sie, Eranthis, auch in Lauenburg wächst, ist bestimmt zauberhaft, macht sie aber weder zu einer Subspecies noch zu einer Varietät, schon gar nicht zu einer eigenständigen Art. Es sind einfach nur Winterlinge an einem Hang des Fürstengartens in Lauenburg. Wie gesagt: zauberhaft. Aber nicht spektakulär.