Boßeln in Niedersachen: Der lange Marsch zum Schöt
Das Spiel mit der Kugel ist mehr als Bollerwagen, Schnaps und Grünkohlessen. In Niedersachsen betreiben Vereine dies als ernsten Sport mit eigenen Ligen und Wettkämpfen.
Echtes Boßeln ist Sport pur. Da gibt es keinen Bollerwagen mit Bier und Kräuterschnaps. Kein Geschnatter bis zum Grünkohlessen. Echtes Boßeln verlangt Geschick und Intelligenz und ist für Zuschauer und Werfer der lange Marsch zum Schöt. So heißt der Punkt, den eine Mannschaft nach einem gewonnenem Spielabschnitt bekommt. Siegreich ist am Ende die Mannschaft, die mit den wenigsten Würfen eine Strecke von bis zu acht Kilometern durchmisst.
„Genau hier! Genau hier“, ruft die Käklerin, so wird die Frau genannt, die den Mannschaften die Bahnen zuweist. Sie tippt mit der Fußspitze auf den Asphalt. Hier soll sie hingeworfen werden, die Kugel, der Kloot, das Ding. „Markus, kneif' die Arschbacken zusammen und gib' alles“, schreit sie dem Werfer zu. Der steht gut 80 Meter entfernt am Straßenrand, an der „Trüll“, also da, wo der letzte Wurf gelandet ist.
Kugel mit Spüli besprüht
Markus liebkost die Gummikugel, knallt sie klackernd auf die Straße, fängt sie wieder auf und besprüht sie mit Spüli. Andere nehmen lieber Mineralwasser, Er reibt die Kugel sauber und griffig. Wieder pfeffert er sie auf den Asphalt, fängt sie auf, blinzelt in Richtung der Kräklerin. Zielt. Nimmt Anlauf, holt im Sprint mit dem Wurfarm aus, springt hoch und schleudert den Kloot in die von der Käklerin angegebene Richtung. An einer Lehmplacke auf der Straße driftet die Kugel ab, kracht am Straßenrand gegen einen Stein, springt hoch über einen Zaun in einen Garten. „Er hätte das mehr über den Daumen legen müssen“, kommentiert ein Beobachter, die hier Mäkler genannt werden.
Besser macht es Thomas. „Sauber, Thomas, sauber! Lat’m rullen!“, ruft einer der Mäkler. Das ist plattdeutsch und bedeutet so viel wie „Lass ihn laufen“. Er, der Kloot, läuft auf diesem geraden Straßenabschnitt fast 150 Meter weit. Natürlich führen die Werfstrecken nicht immer geradeaus. Die kleinen Straßen schlängeln sich meist durch die norddeutsche Landschaft. Den Kloot durch die Kurve zu schleudern, das ist die hohe Kunst. „Da muss man das Ding mit viel Liebe über den Daumen oder den kleinen Finger laufen lassen. Das gibt den richtigen Drall“, erklärt Thomas. Trotz allen Könnens landet fast jeder Wurf im Graben. Dafür schleppt die Kräklerin den Krabbel oder Söker mit. Mit einem an einen langen Stab befestigten Drahtkorb fischt sie den Kloot aus dem Modder des Straßengrabens.
Pro Verein werfen je zwei Gruppen, mit jeweils vier bis acht Mitgliedern. Einige werfen mit Gummikugeln, andere mit Holz – wobei das Holz in Wahrheit gepresster Hartkunststoff ist. Echtes Holz wäre zu teuer. Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder haben verschieden große und schwere Kugeln. Das Mannschaftsboßeln findet zwischen September und März statt, danach beginnen die Einzelkämpfe.
„Wir haben das Boßeln in die Wiege gelegt bekommen“, sagt Imke Kasper. Sie ist nicht nur Fan, sondern Vorsitzende des Vereins Uplengen/Hollen im Kreisverband Leer. Das ist der jüngste aller ostfriesischen Verbände und wurde 1972 von ihrem Vater begründet. Geboßelt wird aber auch hier seit ewigen Zeiten. „Es war nur schwierig, eine ordentliche Vereinsarbeit aufzubauen, zumindest im Kreis Leer“, erklärt Tamme Boekhoff, Vorsitzender des Kreisverbandes in Leer.
Keiner weiß so recht wie das mit dem Boßeln angefangen hat. Ethnologen glauben zu wissen, das Werfen mit Steinen habe bei den Küstenbewohnern militärischen Ursprung. Es könnte aber auch einfach nur sein, das die Norddeutschen einfach Langeweile hatten – und so mit dem Steinwerfen begannen.
Vorläufer des Straßenboßelns ist jedenfalls das Klootschießen. Das geht so: Nach einem Anlauf springt der Werfer auf eine Rampe und schleudert eine kleine Eisenkugel über die Weide. Wer am weitesten wirft, gewinnt. Damit Werfer und Zuschauer nicht auf den moorigen Weiden versinken, wird diese Sportart nur im Winter bei festgefrorenem Boden ausgeführt. Mit der Zeit wurden die WerferInnen immer athletischer, die Sprungtechnik immer ausgefeilter.
Es gab Helden und Idole wie Gerd Gerdes, der 1935 den Kloot 101,35 Meter weit über die Wiese schleuderte. Erst 1985 bei dem legendären Wettkampf zwischen dem Bären von Esens, Hans-Georg Bohlken, und Harm Henkel wurde diese Weite übertroffen. Weil dieses Klootschießen immer spezieller wurde, so die Theorie, hat sich irgendwann das Straßenboßeln entwickelt. Jetzt konnte jeder die Kugel über den Asphalt schmettern. In der Kreisliga wie in Uplengen tut das der Sohn mit dem Vater, die Tochter mit der Mutter, der Enkel mit dem Opa. In den höheren Ligen werfen echte Könner. Hier ist Boßeln Leistungssport.
25.000 Vereins-Mitglieder in Ostfriesland
Das Boßeln ist gut organisiert. Im Oldenburger Landesverband etwa werfen in 115 Vereinen rund 15.000 BoßlerInnen. In Ostfriesland sind es in 153 Vereinen über 25.000 Mitglieder. Kreis- bis Landesligen haben einen festen Regelkatalog. Neben den Ligameisterschaften gibt es auch je einen Landespokal. Und dann gibt es natürlich den Länderkampf zwischen Ostfriesland und Oldenburg. Der ist Kult.
Für nationale und internationalen Meisterschaften bis hin zum legendären Einzelkampf des „King of the Road“ in Irland, haben Boßler einen vollen Terminkalender. Italien (Bocciati), Spanien (Tiradores), Niederlande (Klootschieter) und Irland (Bowl Player) und Schweiz (Krugler), sind neben Norddeutschland die größten Boßelnationen. Irland war lange Zeit die Bastion der ultimativen Könner. Bis Frido Walter aus Pflazdorf bei Aurich anlief. Er wurde 1996 Europaeinzelmeister der Straßenboßler gegen den bis dahin als unschlagbar geltenden Iren Bill Daly. Noch erfolgreicher als Frido Walter war allerdings Antje Schöttler-Gerjets. Sie gewann zweimal die Europameisterschaft, die genau genommen eine Weltmeisterschaft ist.
An diesem Sonntag gewinnt Uplengen/Hollen und wahrt so die Chance auf den Gewinn der Kreismeisterschaft. Imke Kasper ist kurz nach dem Sieg ihrer Uplengener schon auf dem Sprung. Sie muss arbeiten. „Da kann ich mehr verlässlich mitboßeln.“
„Es gibt so viele Leute, die gerne sportlich boßeln möchten, aber uns fehlen die Betreuer“, sagt Boekhoff, Chef der Leeraner Boßler. „Die Wochenendarbeit macht uns den ganzen Sport kaputt.“ Außerdem gehen die Jugendlichen „am Samstag nach der Arbeit lieber in die Disco und feiern bis Sonntag früh“, sagt Boekhoff. „Da ist kein echter Sport mehr möglich.“
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