Blogosphäre zum Piraten-Erfolg: Mal gucken, was da noch kommt
Die Blogosphäre gratuliert der Piratenpartei zum Einzug ins Abgeordnetenhaus. Gehofft wird, dass Netzpolitik auch in den anderen Parteien jetzt ernster genommen wird.
Um die neun Prozent: damit hatte kaum jemand gerechnet, nicht einmal die Optimisten. „Isch werd verrückt“ twitterte der Listenerste Andreas Baum, und Fabio Reinhardt, Listenplatz 9, nahm es herzlich selbstironisch: „Herzlichen Glückwunsch Berlin, du hast grad deine Arbeitslosenstatistik um ein paar Punkte nach unten korrigiert!“ Überhaupt herrscht unter den Neumitgliedern des Abgeordnetenhauses beste Stimmung, gepaart mit leisem Staunen über so viel Erfolg.
Die Piraten haben die letzten Jahre nicht nur Zuspruch aus der Blogosphäre erhalten. Doch gerade vor dieser Wahl hatten sich einige reichweitenstarke Blogger zur Piratenpartei bekannt, darunter Malte Welding, Johnny Haeusler, Jörg Kantel und Felix Schwenzel. Wie die meisten anderen Piratenunterstützer betonten deren Artikel gleich zu Beginn die Unwählbarkeit aller anderen Parteien und bekundeten, den Piraten deswegen zumindest eine Chance geben zu wollen, weil man sich neue Impulse erhoffe. Das „Pro“ in „Protestwahl“ könne man, so Haeusler, „einfach weglassen“. Eine Testwahl also. Mal gucken, was da noch kommt.
Das haben sich wohl Wählerinnen und Wähler aus allen linken Parteien gedacht, die sich diesmal für die Piraten entschieden haben. Die Partei hat ein Milieu angesprochen, dass sich bisher unterrepräsentiert sah, sich aber auch als Speerspitze und Avantgarde versteht. Die Piratenpartei selbst hat immer wieder gerne betont, dass sie das Rechts-Links-Schema als veraltet ansieht und selbst postideologisch und pragmatisch nach konkreten Lösungen für bestimmte Probleme sucht: deswegen nennt Blogger Felix Neumann sie die „radikalen Zentristen“.
„Abstruse Konzepte“
Was aber hat das mit Berlin zu tun? Auf welche Probleme haben die Piraten konkrete Lösungen? Was wird man von ihnen erwarten dürfen? Auf konkrete Vorschläge, sagt der Sozialdemokrat Nico Lumma, verlasse er sich jedenfalls nicht: Was die tägliche, mühsame Arbeit im Parlament angehe, befürchtet er, dass „die Piraten jetzt Schwierigkeiten haben werden, zu liefern“. Bisher seien sie vor allem durch „abstruse Konzepte“ aufgefallen, ein Vorwurf, den man positiver formuliert immer wieder gehört hat im Vorfeld dieser Wahl.
So hatte Bloggerin das Nuf bei der Lektüre des Wahlprogramms zwar gute Ansätze und Ideen entdeckt, aber keine Wege, wie sie zu erreichen seien. Bei jedem Punkt sei es ihr so ergangen: „Lesen, romantisch finden, vergeblich nach Umsetzbarkeit suchen.“
Der Journalist und Politikberater Michael Spreng hat schon vor der Wahl auf das spezifische Berliner Milieu hingewiesen, das den Erfolg erklärbar aber eben auch nicht übertragbar macht: Berlin, das ist die Stadt der „Irgendwas mit Medien“-Leute, die für zu wenig Geld in prekären Arbeitsverhältnissen leben – sich selbst aber als Zukunft begreifen. Klarer als sushee hat das bisher niemand formuliert. Auf die Frage, warum sie die Piraten gewählt habe, antwortet sie unter anderem: „Weil ich immer weiter in der Zukunft lebe und der Rest des Landes einfach schwerstens hinterher hinkt.“
Wer arrangiert sich zuerst?
Was nicht heißt, dass es notwendigerweise die Piraten sind, die die Zukunft gestalten sollen. Diese Wahl hat trotz der besonderen Situation an der Spree eine Ausstrahlung: Bisher hatten versierte Netzpolitiker in den etablierten Parteien einen schweren Stand. Wenn es nach Blogger Marcel Weiss geht, könnte sich das jetzt ändern. Er hofft auf die parteiübergreifende Erkenntnis, „dass das Internet und dessen Auswirkungen ernst zu nehmen sind und es nicht reicht, von ‚rechtsfreien Räumen‘ etc. zu reden.“
Zugespitzt lautet die Frage also: Wer wird sich schneller arrangieren, die Piraten mit der Abgeordneten- und Parteiarbeit, oder die Etablierten mit dem Netz? Bis es darauf eine belastbare Antwort gibt, kann man sich die Zeit mit ein wenig Leitartikel-Bingo vertreiben.
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