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Blind date Anke Dübler ist Textilkünstlerin. Sie stickt gern – am liebsten ganz Feines. Aber sie verlor das Augenlicht, ein Gehirntumor. Nun stickt sie blindVorher Schweigen, jetzt Stimme

von Waltraud Schwab

Kerzengerade folgt Anke Dübler ihrem Mann über den Parkplatz vor dem Bahnhof von Salzwedel. Bedächtig setzt die große Frau ein Bein vor das andere und behält den Mann dabei fest im Blick. Im Blick? – Der Mann ist ein Schatten.

Wie kann sie so gehen? Sie sieht doch nichts. Fast nichts, drei Prozent. Außerdem: Das, was noch hereinreicht an die im Gehirn verarbeitete Bildwirklichkeit, schafft es nur an die Ränder. In der Mitte des Gesichtsfelds ist nichts. Ein wenig muss sie den Kopf heben, um den Schatten vor sich zu sehen, das streckt ihren Gang. „Ich sehe hell und dunkel“, sagt sie. Das reicht. Auch erspüre sie die Gestalt. „Wenn jemand vor mir geht, kann ich gehen.“ Ohne Hand, die sie führt. Ohne Stock – mit dem wäre es für sie wie ein Humpeln.

Mehr als nur ein Wink

Im Auto nach Depekolk, dem Dorf in Sachsen-Anhalt, wo sie wohnen, es ist klein, zweihundert Leute, eine Backsteinkirche, eine Bushaltestelle, erzählt sie, dass sie vor drei Jahren erblindete. Innerhalb eines halben Jahres war alles weg. Der Tumor fraß sich im Gehirn fest, drückte aufs Sehzentrum. 43 Jahre alt war Anke Dübler da. „Nie wäre ich darauf gekommen, dass es ein Tumor ist.“ Sie dachte, es sei mehr ein Wink, der Sehverlust wolle ihr sagen: Da hast du nicht genau hingeguckt. War da etwas in der Kindheit, mit den Eltern, den Menschen, dem Mann, den Kindern – einem Jungen, einem Mädchen, Orten, Zeiten? „Als hätte ich was übersehen auf meinem Lebensweg.“ Sobald sie erkannt hätte, was es ist, hätte sie es lösen und wieder sehen können. „Nie hätte ich gedacht, dass ich blind werde, dass es so bleibt, dass es eine körperliche Ursache hat.“

Auf der Fahrt von Salzwedel nach Depekolk ist die Landschaft wie ausgeblendet. Straßen, Bäume, Felder. Und da drüben mehr Wald – sie rauschen vorbei, sind hingetuschte Vereinfachungen, Kulissen. Weil Dübler nichts sieht, geht es auf der Fahrt nicht ums Sehen und schon gar nicht ums Zeigen. Noch keinen Kilometer unterwegs, verhakt sich das Gespräch stattdessen an Inwendigem. Dübler versucht jeden Tag, sich vorzustellen, wie innen, in ihr, das Sehen wieder größer werden kann, wie Stammzellen aus dem Rückenmark im Blut bis zum zerstörten Sehzentrum fließen und dort das Kaputte reparieren. „Stammzellen: Meister der Verwandlung.“ Der Körper könne so viel.

Pia, die zwanzigjährige Tochter, sitzt mit im Auto. Wie Depekolk aus ihrer Sicht ist? Schön und schwierig. Schön, weil es schön ist, schwierig, weil für junge Leute nicht bewegt genug. Kaum angekommen in dem heimeligen Haus, aus Holz, Erdfarben und Improvisation ist es gemacht, legt sie die neu erworbene CD von Parov Stelar auf, Disco-Swing. Warmer, klopfender Sound. Ganz leicht wippt die Mutter mit – tanzt sitzend in Mikro­bewegungen.

Anke Dübler ist Textilkünstlerin, eine, die das Feine liebte, das Minutiöse, kleiner geht nicht, Stiche, so zart, dass sie eine Stunde brauchte, um einen Quadratzentimeter zu sticken. „Sticken nährt mich innerlich.“ Bevor sie erblindete, hatte sie sich in der Kunsthandwerkschule in Schneeberg noch eingeschrieben, machte Kurse in Feinstickerei. Sie holt hinterm Korb, in dem die ungesponnene Schafwolle der vier Schafe liegt, die vor dem Haus grasen, den Stickrahmen hervor und zeigt ihre angefangene Arbeit – etwas Rundes, Labyrinthisches, Ausstrahlendes sollte es werden. In Blau. Stiche, einen halben Millimeter groß.

In der Nähe von Chemnitz wuchs Dübler auf. DDR. Sie sagt nicht, dass es leicht war in der DDR, sagt nicht, dass es schwer war, sie ist sowieso nicht der Typ, der viel redet, aber das ändere sich jetzt – gezwungenermaßen. Denn von den Augen kann sie ihrem Mann, ihren Kindern die Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr ablesen. Wortlos, so wie früher.

„Wenn alle blind wären, würden die Sehenden auf die Blinden angewiesen sein“

Anke Dübler, Textilkünstlerin

Aber gerade ging es um die DDR und nicht ums Sprechen. „Ich musste in der DDR Silikat­technik, Verfahrenstechnik für die Porzellan- und Glasherstellung an der Bergakadmie in Freiberg studieren.“ Musste – obwohl ihr Vater doch NVA-Soldat war und im Einverständnis mit dem Staat lebte. Sie hatte Glück, sie war erst 19, als die Wende kam. Zack, die Mauer weg, das Studium geschmissen. „Ich bin sofort nach Dresden.“ Dort immatrikuliert sie sich in So­zial­pä­dagogik. „Damals habe ich dem Textilen noch nicht ­getraut.“

Ihrem Wunsch, aufs Land zu ziehen, Kinder zu haben, traute sie schon. Tobias, ein Tischler und zwei Jahre älter als sie, teilte die Sehnsucht. Gemeinsam mit anderen fanden sie schon bald nach der Wende den Dreiseithof in Depekolk, zwei Hektar Land dazu. Ein Paradies. Rebhühner seien letztes Jahr da gewesen, sogar ein Fasan.

Dübler hat Mädchenarbeit gemacht, hat einen Kindergarten geleitet, bevor sie sich doch fürs Textile entschied und begann, Kleider zu entwerfen, die sie bemalte, bestickte, mit Holzapplikationen dekorierte. Den Holzschmuck fertigte ihr Mann. Mit ihren Entwürfen ging sie auf Märkte – sie war die Hauptverdienerin. Es sind Königinnenkleider. „Ich kann das nicht kaufen, es macht mich zu groß“, soll eine Frau einmal gesagt haben. Sie, diese Schweigende, die nun sprechen muss, sagt: „Wir haben verlernt, uns zu schmücken.“ Dabei sei das doch in allen Kulturen ganz normal. „Aber bei uns wurde es vergessen.“ Sie war gerade auf dem Weg in die Schönheit, als die Krankheit kam, und alles umwarf: Vorher hell, jetzt dunkel. Vorher klein, jetzt groß. Vorher fein, jetzt grob. Vorher Schweigen, jetzt Stimme.

„Alles redet“, sagt Anke Dübler. Das Handy spricht, es kann Licht, kann Farben erkennen, sie fährt damit über ihren Pullover, die Hose: „Rot“, „Gelb“, „Mix“, „Braun“, „Mix“ sagt die digitale Handystimme, Tonlage Mezzosopran. Die Armbanduhr, der Computer, die Küchenwaage sprechen, der Mann, die Kinder sprechen. „Wir waren vorher stille Leute.“ Jetzt lernt sie den Mann neu kennen. „Ich höre und ertaste ihn.“ Sie holt die Küchenwaage, schaltet sie an: „Hallo, es ist bereit“, schreit die Küchenwaage, Tonlage Mezzosopran. Sie legt das Handy darauf. „123 Gramm“ – es klingt mehr wie Kommando denn Information. Die Lautstärke lässt sich nicht regulieren.

Die Krankheit, das war eine Riesenkrise, in die die ganze Familie stürzte. Erst war unklar: Ist der Tumor gut? Ist er böse? Tobias, ihr Mann, habe ihr viel gegeben. „Ja, Tod, ja, Leben“ – das waren so Fragen, die sie überschwemmten. Ihr Sohn konnte gut mit ihr umgehen, umsorgte sie. Ihre Tochter kämpfte eher, war genervt, „pass auf, dass du den Tee nicht danebengießt“, so in der Art. Alle seien gewachsen an ihrer Krankheit.

Es war keine Wahl

Und sie selber? Ihr Mann sagt, dass es immer wieder Wutausbrüche gab, wenn sie dies nicht konnte, jenes nicht konnte. Sie wollte ihre Autonomie nicht verlieren. Es dauerte, bis ihr klar war, die alte Autonomie ist weg, eine neue gewinnt sie. „Wenn ich hätte wählen können, wäre ich diesen Weg nicht gegangen“, sagt sie. Welchen dann? „Ja, das weiß ich nicht.“ Ob sie sich trennen wollten? „Das will man ja immer wieder.“

Sie lebe nun, meint sie, in der Welt der Sehenden. Deshalb sei sie auf sie angewiesen. „Wenn alle blind wären, würden die Sehenden auf die Blinden angewiesen sein.“ Wie das? Als Blinde nehme sie anders wahr. Sie sehe mit dem Herzen. Auch Ahnung sei stark. „Wenn jemand im Raum steht, fühle ich, in welcher Stimmung er ist.“ Sie hört jetzt feiner, der Tastsinn hat sich erweitert. „Ich kann durch die Tüte erfassen, ob Reis drin ist oder Roggen.“ Wäre blind sein normal, könnten das alle, nur die, die sehen, nicht.

Das ganze eingespielte Gefüge ist umgekrempelt. Tobias, ihr Mann, ist jetzt Hauptverdiener. Aber sie will sich das, was sie am liebsten tut, kreativ sein mit Textilien, nicht nehmen lassen. Sie steht in ihrer Werkstatt am Schneidertisch, darunter liegen die wertvollen Stoffe, Seide, Leinen auf Rollen. Auf einer Seite des Raumes steht ein Riesenbildschirm, davor eine Kamera, darunter ein Stickrahmen. Anke Dübler stickt wieder. Nicht fein, sondern grob. Nicht nur sehend, sondern auch fühlend. Die Kamera über dem Stickrahmen vergrößert, was sie tut. Die Nadel sieht nun aus wie ein spitz zulaufender Meißel, der Faden wie ein Tau.

Langsam, den Kopf gehoben, um am Rand des Sehfeldes den Bildschirm erkennen zu können, verfolgt sie den Prozess, stickt im Knötchenstich Punkte aus, die sie vorher in grobem Siebdruck vorgedruckt hat. Der Knötchenstich ist dreidimensional, hebt sich vom Stoff ab. Sie stickt in Blindenschrift Botschaften auf den Stoff, den sie später zu Kissen näht. „Herz“ steht auf einem. „Alles ist gut“ auf den anderen.

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