Bizarre Huldigung: Revolution in Hemelingen

Um Stalin und Lenin zu huldigen, spielten als Sowjets verkleidete „Demonstranten“ zwei Tage lang Revolution in Bremen. Die Agitation vorm Mercedes-Werk half kaum

Ein nachgebildeter T-34-Panzer und ein nicht minder schöner Traktor Foto: Michael Bahlo

Ob es wieder Erschießungen geben wird, weiß man jetzt natürlich noch nicht. „Das muss man dann mit Leuten diskutieren, die den Umsturz wollen“, sagt Stephan Eggerdinger. Lenin jedenfalls war ein guter. Und Stalin war zu über fünfzig Prozent gut, macht also in der Summe zumindest keinen schlechten Mann. Fragt man ihn nach den, je nach Schätzung, zwischen drei und 20 Millionen Ermordeten aus Stalins Zeit, sagt er: „Wir müssen jetzt eher gucken, was wir aus der Revolution lernen können.“

Verhungernde Bauern durch staatliche Zwangskollektivierung, Kannibalismus, Straf- und Arbeitslager? „Gräuelmärchen“, und in den Gulag kamen ja ohnehin nur die „alten Ausbeuter“. Wenn überhaupt, dann war die Revolution in der Sowjetunion nicht konsequent genug: „Die haben den Kampf zu früh eingestellt – das ist Fakt: Sieht man ja im heutigen Russland.“

Lenin und Stalin grüßen

Wie es aussieht, wenn Eggerdinger versucht, aus der russischen Oktoberrevolution zu lernen, konnte man in den vergangenen Tagen in Bremen sehen: Eine Gruppe von fünfzig Personen zwischen Mitte Sechzig und Anfang Dreißig fuhren auf einem nachgebauten Holzpanzer und auf Militär-Lkws durch Bremens Straßen. Sie sehen so aus, als hätten sie gerade einen Militaria-Höker am Checkpoint Charlie enteignet. Perfekt dazu passen die hochgehaltenen Porträts von Lenin, Stalin, Marx und Mao, mit denen der motorisierte Zug am Mittwoch und Donnerstag in Erinnerung an die bolschewistische Oktoberrevolution vor 100 Jahren durch Bremens Straßen fuhr. Der Zug soll dabei kein „Zug der Erinnerung“ sein, sondern auch „einen Aufruf auf die Straßen bringen, den Lehren der Revolution durch die Tat zu folgen!“

Noch im Exil hatte Lenin seine Vorstellung vom revolutionären Defätismus publiziert: Demnach wäre „die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg“ anzustreben. Andernfalls drohe sich die „Bekämpfung des Militarismus auf einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt“ festzurennen.

Das erste Dekret, das die Arbeiter- und Bauernregierung Russlands am 26. Oktober 1917 erlässt, ist das „Dekret über den Frieden“, das die sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit den Kriegsgegnern anordnet: Folge ist der deutsch-russische Waffenstillstand im Dezember und schließlich der Separatfrieden von Brest-Litowsk im April 1918, bei dem Russland mehr als ein Viertel seines Territoriums verliert.

Innenpolitisch verbessert es allerdings zunächst die miserablen Zustimmungswerte der Revolutionäre bei der kriegsmüden Bevölkerung: Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung (Konstituante) hatten die Bolschewiki eine krachende Niederlage erlitten.

Zugleich ermöglicht die Friedenspolitik die schonungslosere Verfolgung der RevolutionsgegnerInnen: Zeitgleich mit den Waffenstillstandsverhandlungen nimmt die außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolutionäre und Sabotage, die Tscheka, ihre blutige Arbeit auf, eine Geheimpolizei, die ab 1918 mit der Errichtung von Konzentrationslagern beginnt. Sie ermordet bis 1921 zwischen 50 und 250.000 Menschen.

Der daraus resultierende, extrem blutige Bürgerkrieg in Russland wird noch bis 1920 andauern. Zugleich beginnt der polnisch-russische Krieg, weil sich das wiederentstandene Polen, verbündet mit Ukraine und Lettland, und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik nicht auf einen Grenzverlauf einigen können. (bes)

Seit beinahe vierzig Jahren organisiert Eggerdingers „Aktionsbüro“ aus Frankfurt ähnliche Demonstrationen, insgesamt habe es 13 gegeben. 1980 waren sogar einmal 32 bis 36 Wagen dabei.

Brot, Frieden, Arbeit

In Bremen sind es sechs. Auch das sind allerdings noch genug, um komplett unironisch Revolution zu spielen. Angela Kammrad, die den Bremer Umzug wesentlich mitorganisiert hat, sagt: „Wir müssen mit Gewalt den Frieden erklären.“ Genau so wie damals im Hafen von St. Petersburg die Revolution mit dem ersten Schuss des Kriegsschiffes „Aurora“ begann. Die 66-Jährige steht vor einer Nachbildung des Schiffes auf einem Anhänger. Sie hat kurze graue Haare, einen schneidenden Blick und trinkt Kaffee aus einem Pappbecher. Denn gerade macht die Revolution Mittagspause. Es gibt Käsebrote aus Plastiktüten.

Wenn man sie auf die Hungersnöte und Massenerschießungen anspricht, wird sie lauter: „Bürgerliche Geschichtsklitterung!“ Der Krieg war verantwortlich für Hunger, die Bolschewiki wollten immer nur: „Brot, Frieden, Arbeit.“ Und: „Adenauer, Kohl, Merkel – das ist doch ein Gewaltapparat!“ Dann steckt sie sich eine Filterzigarette an und nimmt einen Stapel Flugblätter in die Hand. Das Gesicht von Lenin ist drauf, „Revolution – eine harte, aber notwendige Lehre“ steht daneben. Sie agitiert vor den Toren des Großkapitals. In diesem Fall: vor Tor acht des Mercedes-Werkes in Bremen-Hemelingen. Dort singen Menschen mit Matrosenanzug und hoffentlich falschem Gewehr über der Schulter das Einheitsfrontlied, begleitet von einigen Bläsern. Pausenlos fahren dicke LKWs durch das Tor aus dem und in das Werk. Es stinkt nach Diesel. Wenn die 16-Tonner vor der Produktionsstätte anfahren, ist von Einheitsfront nicht mehr viel zu hören. Von den ArbeiterInnen solidarisiert sich keiner. Niemand bleibt stehen, immerhin einige nehmen ein Flugblatt mit.

Ein Arbeiter kommt gerade von der Schicht, nimmt ein Flugblatt und steckt es sich gefaltet in die Mercedes-Benz-Jacke. Er trägt Funktionskleidung und einen silbernen Fahrradhelm. Er sei normaler Arbeiter der „untersten Hierarchieebene“ und gewerkschaftlich organisiert, sagt er, während er sein Mountainbike losschließt: „Das ist mir ein Ticken zu revolutionär, aber muss ja jeder selber wissen. Ich mach dann jetzt mal Feierabend.“

Zwei Polizisten, die den Zug begleiten, lehnen an ihrem Auto und rauchen. Stress habe es weder gestern noch heute gegeben. Einer sagt: „Ältere Leute schütteln mit den Köpfen, viele haben auch Mitleid.“

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