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Biologin über Hochsensibilität„Ich kann die Atmosphäre im Raum erkennen“

Hochsensibilität kommt nicht nur bei Menschen vor, auch bei Tieren. Es profitiert die ganze Gruppe, sagt die hochsensible Biologin Vera Steisslinger.

Sind teils wie Menschen hochsensibel veranlagt: Wildpferde, hier nicht so wild auf einer Weide im Wildpark Schorfheide Foto: Patrick Pleul/dpa

Interview von

Wilfried Hippen

taz: Frau Steisslinger, was ist Hochsensibilität?

Vera Steisslinger: Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich laut wissenschaftlichen Studien bei circa 20 bis 30 Prozent der Menschen finden lässt. Es handelt sich also nicht um eine Störung oder Erkrankung. Hochsensibel zu sein bedeutet, stärker auf innere und äußere Umweltreize zu reagieren und Informationen anders zu verarbeiten. Hochsensible Menschen nehmen oft sehr viel wahr, auch Dinge „zwischen den Zeilen“ oder Stimmungen anderer Menschen.

taz: Sie sind selbst hochsensibel. Wie zeigt sich dieses Merkmal bei Ihnen?

Steisslinger: Bei mir gibt es eine starke Wahrnehmung vonDetails, aber auch von komplexen Zusammenhängen. Da geht esetwa um die Wahrnehmung dessen, was zwischen den Zeilen steht. Ich kann gut die Atmosphäre in einem Raum voller Menschenerkennen oder mein Gegenüber ein wenig differenzierter lesen.

Bild: privat
Im Interview: Vera Steisslinger

geboren 1961 in Braunschweig, ist Coachin, Beraterin und Mutter zweier erwachsener Töchter. Nach einer wissenschaftlichen Laufbahn in Agrarbiologie und biomedizinischer Forschung arbeitet sie heute mit dem Kompetenzzentrum für Hochsensibilität „Aurum Cordis“ in Buxtehude zusammen. Ihr Fokus liegt dabei auf Resilienzentwicklung, Hochsensibilität und körperorientierter Trauma-Arbeit.

taz: Ist das alltägliche Leben für hochsensible Menschen oft schwerer zu bewältigen?

Steisslinger: Ja, es gibt für sie Aspekte, die mit Leidenverbunden sind, mit Schmerz, emotionaler Verletzung und mit demGefühl, ausgegrenzt zu werden. Hochsensible Menschen sind in einem Großraumbüro definitiv falsch am Platz.

taz: Beschäftigt Sie als Biologin das Thema Hochsensibilität auch aus wissenschaftlicher Perspektive?

Steisslinger: Spannend finde ich zum Beispiel, wie die circa 50 Prozent genetischer Veranlagung mit den persönlichen Erfahrungen eines Menschen, vor allem in der Kindheit, zusammenwirken, um die jeweilige Sensibilität auszuprägen. Das gilt sowohl für negative als auch für positive Einflüsse.

Es handelt sich bei der Hochsensibilität nicht um eine Störung oder Erkrankung.

taz: Gibt es in der Forschung noch andere interessante Erkenntnisse?

Steisslinger: Ja, die Evolutionsforschung stellt die interessanteFrage, welche Aufgabe Hochsensibilität als ein stabiles Merkmalhaben könnte. Dass es also in einer Gemeinschaft Individuen gibt, die stärker auf ihre Umwelt reagieren und eigentlich verletzlicher sind als andere. Und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch bei ganz vielen verschiedenen Tierarten.

taz: Wie zeigt sich Hochsensibilität denn bei Tieren?

Der Vortrag

„Hochsensibilität als persönliche und gesellschaftliche Zukunftskraft“ von Vera Steisslinger, 24.11., 19.30 Uhr, Goldbekhaus, Hamburg

Steisslinger: Zum Beispiel könnten in einer Wildpferdeherde solche Tiere aufmerksam die Umgebung beobachten und erkunden, während die anderen gemütlich grasen und für Ruhe und Stabilität sorgen. Wenn sich die äußeren Bedingungen ändern, wenn also eine Gefahr naht oder das Gras zur Neige geht, dann wissen die sensiblen Tiere eine Lösung. Sie gehen beim Erkunden auch Risiken ein, wie zum Beispiel hinter dem nächsten Busch gefressen zu werden oder eben weitere Wege zu laufen. Daher ist die größere Sensibilität für die gesamte Herde nur von Vorteil, wenn sich nur eine Minderheit der Tiere so verhält.

taz: Passt das nicht zu der These Ihres Vortrags, dass Hochsensibilität eine Ressource bei der Gestaltung der Zukunft sein kann?

Steisslinger: Ja, genau! Denn auch bei den Menschen trifft es jazu, dass die Wahrnehmung von diversen Möglichkeiten einwichtiger Punkt ist, um neue Wege zu gehen. Außerdem wird Hochsensiblen eine hohe Empathiefähigkeit zugeschrieben. Die Fähigkeit zuzuhören und sich einzufühlen ist für den zwischenmenschlichen Zusammenhalt unheimlich wertvoll.

taz: Können Sie das noch ein wenig vertiefen?

Steisslinger: Wir sehen bei hochsensiblen Kindern oft, dass sie einen sehr starken moralischen Kompass haben. Schon als kleineKinder sind sie sehr klar in ihrem Wertesystem und stellen Fragenvoller Weisheit, bei denen man sich wundert, wo sie das herhaben.Viele hochsensible Menschen haben eine große Lust zu lernen und Neues auszuprobieren. Auch wenn sie dabei dann ab und zu Rückschläge erleiden und einen bunten Lebenslauf aufweisen. Sie haben eine innere Motivation weiterzumachen, denn sie wissen, dass es etwas gibt, das über sie hinausweist.

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