Bioingenieur über Tierversuche: „Weniger Emotion, mehr Evidenz“

Der Bioingenieur Peter Loskill forscht an Verfahren, mit denen Tierversuche ersetzt werden können. In seinen Reagenzgläsern wachsen Alternativen.

Eine weiße Maus, die auf den Hinterpfoten sitzt

Tierversuche stehen in der Kritik, doch nicht immer gibt es einfache Alternativen Foto: MUKUND IMAGES/getty images

taz: Herr Loskill, als Bio­ingenieur und Professor an der Universität Tübingen forschen Sie zu Modellen, die Tierversuche ersetzen können. Was ist der große Hoffnungsträger derzeit?

Peter Loskill: Alle – und keiner. Das ist wichtig zu verstehen: In den meisten Fällen ist es nicht so, dass man eine neue Methode entwickelt, die dann eins zu eins einen Tierversuch ersetzt. Wir arbeiten an Modellen, die es ermöglichen, neuartige Studien durchzuführen. Da nutzen wir zum Beispiel Organoide, das sind dreidimensionale Zellgebilde, die wir im Reagenzglas heranzüchten und mit denen wir die Funktion einzelner Organe abbilden können.

Oder wir arbeiten für eine andere Fragestellung mit den noch komplexeren Organ-on-a-chip-Modellen. Dabei bringen wir Mini-Organstrukturen unter Laborbedingungen in eine Umgebung, die der im menschlichen Körper entspricht. Für wieder andere Fragen nutzen wir Computerprogramme, die Wirksamkeit und Giftigkeit von Substanzen im menschlichen Organismus vorhersagen können, sogenannte In-silico-Modelle. Aus allen diesen Quellen können wir Informationen zusammentragen, die dann im besten Fall Tierversuche ersetzen.

Stimmt es, dass Alternativmodelle oft besser, weil genauer sind als der Tierversuch?

Zunächst einmal: Es gibt nicht das Alternativmodell, und genauso wenig gibt es das Tiermodell. Es gibt nur sehr wenige alternative Modelle, die dem Menschen näher kommen könnten als ein Primat, dessen Verwendung ethisch natürlich sehr umstritten ist. Und es gibt viele Alternativmodelle, die besser übertragbar sind als Mäuse oder Ratten. Gut etabliert ist zum Beispiel künstliche Haut. Es gibt einzelne Gewebe, wie zum Beispiel die Netzhaut des Auges, die wir schon sehr gut am Alternativmodell nachbilden können.

Wir arbeiten hier am 3R-Center Tübingen zum Beispiel mit Schlachtabfällen, aber auch mit Retina-on-a-chip-Modellen. Das sind Mini-Versionen der menschlichen Netzhaut. Damit testen wir zum Beispiel Arzneimittelkandidaten gegen Krankheiten des Auges, die zum Erblinden führen können. Und wir forschen zu Nebenwirkungen von Krebsmedikamenten, die das Sehen in Mitleidenschaft ziehen. Da sehen wir, dass für bestimmte Fragen diese Modelle besser auf den Menschen übertragbar sind als der Tierversuch.

Wo kommen die neuen Modelle an ihre Grenzen?

Immer da, wo es um Verhaltensforschung geht oder um psychologische Forschung. Oder dort, wo wir Wechselwirkungen zwischen Organen und Geweben untereinander untersuchen, etwa in der Diabetesforschung, bei neurologischen Erkrankungen oder bei Implantaten, weil da das Immunsystem beteiligt ist. Da wird es aufgrund der Komplexität schwierig, die klinische Situation nachzubilden.

Jahrgang 1984, ist Bioingenieur, Professor und leitet das 3R-Center in Tübingen. Das Zentrum ist eine gemeinsame Einrichtung der Universität Tübingen und des außeruniversitären Naturwissenschaftliches und Medizinisches Instituts (NMI). 3R steht für das Prinzip, Tierversuche zu ersetzen (replace), die Zahl der Tiere zu verringen (reduce) und ihr Leiden auf ein Minimum zu beschränken (refine).

Bei diesen Beispielen stehen aber auch Tierversuche in der Kritik, weil fraglich ist, wie gut sich Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen. Warum wird dann weiter mit Tieren gearbeitet?

Das ist in der Tat ein Dilemma. Nehmen wir mal das Beispiel Diabetes. Es gibt diesen riesigen Bedarf, der immer größer wird. Und die Forschung hat den Auftrag, Menschen zu helfen. Sollen wir sagen: „Unsere Modelle sind zu schlecht, wir arbeiten da erst einmal nicht weiter, bis wir bessere haben“? Oder versuchen wir, mit dem was wir haben, das Bestmögliche zu tun um, unseren Pa­ti­en­t:in­nen möglichst bald irgendwie zu helfen? Für bestimmte Forschungsbereiche gibt es einfach noch keine Alternativen. Für andere gibt es sie, aber sie sind noch nicht ausreichend erprobt.

Für Kosmetika sind Tierversuche bereits seit 2004 verboten. Trotzdem geht die Zahl der Versuchstiere in Deutschland nur ganz langsam zurück. Im Jahr 2020 waren es knapp zwei Millionen. Was ist da los?

In der pharmazeutischen Forschung sind die Zahlen am Sinken, seit Jahren schon. In der akademischen Forschung steigen sie noch leicht an oder stagnieren, wegen Corona sind diese Zahlen nicht ganz eindeutig. Das liegt zum einen daran, dass wir – glücklicherweise – einen Anstieg an biomedizinischer Forschung haben in Deutschland. Es gibt bereits Alternativen, aber nicht alle sind schon ausreichend erprobt. Und wir haben es tatsächlich auch mit einer gewissen Trägheit des Systems zu tun, in der Denkweise, aber auch in der Infrastruktur.

In den USA gab es zu Beginn des Jahres eine Änderung des Arzneimittelgesetzes. Tierfreunde jubeln, denn Tierversuche sind in den Staaten jetzt ein „Kann“, kein „Muss“ mehr für die Zulassung eines neuen Medikaments. Was bedeutet das für Deutschland?

Dieses Gesetz ist vorbildlich. Es ermöglicht erstmals den Experten und Behörden, evidenzbasiert zu entscheiden, welches Modell sie zulassen. Und das wiederum gibt der Forschung erstmals die Möglichkeit, wirklich anhand der Vorhersagekraft zu entscheiden, ob ein Alternativmodell oder ein Tierversuch gebraucht wird. Bis dato musste für jeden Zulassungsantrag ein Tierversuch gemacht werden, auch wenn die Ergebnisse schon durch andere Methoden vorlagen. Jetzt können auch modernere Ansätze verwendet werden, die zum Teil bessere Ergebnisse liefern. Pharmafirmen sind meist globale Player, die entwickeln keine Medikamente für einzelne nationale Märkte. Von daher hat diese Gesetzesänderung schon auch auf die europäische Landschaft eine große Signalwirkung.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Brauchen wir auch in Deutschland ein neues Gesetz, damit bessere Alternativen entwickelt werden? Oder muss es erst einmal bessere Alternativen geben, bevor ein neues Gesetz sinnvoll ist?

Das bedingt sich gegenseitig. Unser Gesetz in Europa stammt aus einer Zeit, in der es keine wirklichen Alternativen gab. Das hat sich inzwischen geändert. In den USA war es genauso: Forschung und Entwicklung haben dort die Grundlage für diese Gesetzesänderung geschaffen. Das Gesetz wiederum ermöglicht es nun, alternative Modelle in der Industrie jetzt auch wirklich voranzubringen. Die Forschung hat es auf diese Weise sehr viel leichter, den nächsten Schritt zu machen.

Werden wir Tierversuche irgendwann ganz ersetzen können?

Nein, ich glaube in absehbarer Zeit nicht, aus den oben genannten Gründen. Aber immer da, wo neue Modelle wirkliche Alternativen sind: auf jeden Fall!

An welchen Schrauben müssen wir drehen?

Wir brauchen dringend eine Debatte, die weniger polarisiert ist. Weniger Emotion, mehr Evidenz. Es bringt nichts, Erwartungen zu wecken, die dann niemand halten kann. Einfach nur zu sagen, es darf keine Tierversuche mehr geben, heißt, dass wir in große Probleme reinlaufen. Bevor das geht, müssen wir die Alternativen bereitstellen.

Die gibt es doch bereits – woran hakt es noch?

Wir müssen besser werden, ganz einfach. Wir müssen die Entwicklung neuer Modelle fokussiert vorantreiben, in allen Bereichen, von Stammzellen über Organoiden und Organ-on-a-chip bis in-silico. Wir brauchen da in Deutschland ganz dringend eine breit angelegte Förderinitiative, die dieses Feld voranbringt. Und dann müssen wir den Zugang zu diesen neuen Modellen in die Breite bringen. Wir müssen Infrastruktur schaffen und Labore aus- und aufrüsten. Und diejenigen ausbilden, die die Studien konzipieren und durchführen. Wenn all das geschieht, dann könnten wir in 10 bis 20 Jahren die Anzahl der Tierversuche halbieren, denke ich.

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