Biografie über Selenski: Viele Namen, viele Leerstellen
Was für ein Mensch ist Wolodimir Selenski? Sergii Rudenkos Biografie über den ukrainischen Präsidenten bietet nur mühsame Antworten darauf.
Der tapfere Kriegspräsident, in kakifarbener Kleidung und mit müden Augen, standhaft, auch persönliche Risiken eingehend, der einem übermächtigen Gegner trotzt: So kennt die Welt den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Man erinnert sich dunkel, dass das einmal ein erfolgreicher Fernsehkomiker gewesen ist. Aber der Lebensweg dieses Mannes und seine Techniken der Machtausübung sind außerhalb des Landes weitgehend unbekannt geblieben.
Als „erste Biografie Selenskyjs“ bewirbt der Hanser-Verlag sein Buch des ukrainischen Journalisten Sergii Rudenko über den Präsidenten (der im Buch nach anderer Transkription mit -yj geschrieben wird). Das mag so sein, das Werk lässt den deutschen Leser aber ratlos zurück. Denn man erfährt zwar Vieles aus der jüngeren Vergangenheit von Intrigen und Ränkespielen inner- und außerhalb von Selenskis Partei „Diener des Volkes“, man liest die Namen Hunderter seiner Helfer und Gegner – aber was Selenski letztlich will und wofür er steht, bleibt weitgehend im Dunkeln.
Sergii Rudenko nähert sich seinem Protagonisten über die Frauen und Männer an, die er zu seinen Getreuen zählte oder noch zählt. Das hat den Vorteil, intime Erkenntnisse über die Techniken der Macht Selenskis ans Tageslicht zu fördern, die dieser nicht unbedingt an die große Glocke hängen möchte – dass er von seinen Mitstreitern etwa unbedingte Loyalität erwartet.
Dieses Verfahren birgt freilich auch die Gefahr, sich in Details zu verheddern, deren Bedeutung und Tragweite dem unkundigen Leser verborgen bleiben müssen. Zudem ist die Zahl der Handelnden derart inflationär, dass es eines Personenindexes bedürfte, den es aber nicht gibt. Kurz: Der Leser und die Leserin ersäuft in Einzelinformationen, ohne dass ihn oder sie eine Hand hilfreich führt, um sie einzuordnen.
Sergii Rudenko: „Selenskyj“. Übersetzt von Beatrix Kersten, Jutta Lindekugel. Hanser, München 2022, 224 S., 24 Euro
Für ukrainische Politjunkies, die all diese Nebenfiguren aus eigener Anschauung gut kennen, ist das gewiss eine vergnügliche Lektüre. Für Außenstehende, denen die Verästelungen ukrainischer Politik nicht geläufig sind, aber ist es eine Zumutung. So artet die Lektüre in ein unfreiwilliges Politikstudium aus, für das die Zuhilfenahme eines Literaturapparats dringend zu empfehlen ist.
Essenzielle Hintergründe fehlen
Und weil dies ganz offenbar ein Buch für ukrainische Leserinnen und Leser ist, dem zu Beginn und Ende jeweils eine Aktualisierung über Selenski im Krieg angefügt wurde, fehlen essenzielle biografische Informationen und Hintergründe. Dass der in Kiew geborene ukrainische Präsident in der Mongolei aufwuchs, wo seine Eltern als Ingenieure tätig waren, erfährt man erst auf Seite 190. Dass seine Familie jüdische Wurzeln hat, kann man später einem Nebensatz entnehmen.
Wie beides Wolodimir Selenski geprägt hat, bleibt unklar. Denn der Ausflug in seine Kindheitsgeschichte endet schon nach zwei Absätzen, und sein religiöser Hintergrund wird überhaupt nicht thematisiert – ebenso wenig wie sein abgeschlossenes Jurastudium, von dem man lediglich erfährt, dass er danach niemals als Jurist tätig gewesen ist.
Hinzu kommen sprachliche Schnitzer, wobei unklar bleibt, ob dies am Autor oder an der Übersetzung liegt. Aber es ist nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit, „stets elegant im Dreiteiler oder einfach mit Weste“ gekleidet zu sein, da sollte man sich schon entscheiden. Was bitte soll eine „politische Titanic“ sein, und wie ist es zu verstehen, wenn ein Berater „auf freiwilliger Basis“ Assistent eines Abgeordneten wird – geht das auch gezwungenermaßen?
Kometenhafter Aufstieg
Einiges erfährt man immerhin über Selenskis kometenhaften Aufstieg zu einem Fernsehstar im Bereich der komischen Unterhaltung – wer einmal eine Folge aus der Serie „Diener des Volkes“ sah, weiß, wie großartig er dort agiert. „Ich bin nicht Ihr Gegner, ich bin Ihr Urteil“, schleuderte er 2019 dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko entgegen, ein Satz, den man nicht beim Jurastudium lernt – aber im Fernsehstudio. Selenski siegte mit gewaltigem Abstand.
Deutlich wird auch, dass der Politnewcomer sich bei der Ausgestaltung der Macht auf sein altes Netzwerk verließ und bei Personalentscheidungen alles andere als zimperlich agiert – und dass die Macht der Oligarchen in der Ukraine keineswegs gebrochen ist.
Und schließlich wird klar, wie sehr sich der alte Wolodimir Selenski von dem neuen Selenski im Krieg unterscheidet. Da ist kein Komiker mehr, aber einer, der auf das Angebot der USA, ihn in den ersten Tagen des russischen Angriffs aus Kiew zu evakuieren, antwortete: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Das ist jemand, dem es gelungen ist, als Vorbild für ein ganzes Volk zu agieren.
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