Biografie über Autor Wolfgang Herrndorf: Jenseits der Festanstellung
Vor dem Aufstieg Wolfgang Herrndorfs als Schriftsteller kam das Scheitern als Künstler. Tobias Rüther hat über ihn eine kundige Biografie geschrieben.
Wolfgang Herrndorf war ein Könner. Ein Virtuoso, wie dieser Typus in der Kunsttheorie der italienischen Renaissance heißt. Jemand, der den Ehrgeiz hat, Bilder und Bücher so lange zu studieren, bis er ihre Gesetze versteht und ihre Hervorbringungsverfahren, so gut wie irgend möglich, anwenden kann.
Ein Beispiel für Herrndorfs künstlerische Grundhaltung, das der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Tobias Rüther, in seiner nun erscheinenden Biografie anführt, war es zeitweise, herauszufinden „wie man einen Cranach malt“. Und wozu? Weil „so zu malen bedeutet, mithalten zu können mit dem, was die Überlieferung hinterlassen hat“.
Rüther nennt dieses Virtuositätsideal treffend „Würde der Genauigkeit“. Und es blieb nicht bei der Kunst. Auch über die Krankheit, den Gehirntumor, der ihn seit 2010 seiner Identität zu berauben drohte, wusste er zum Schluss mindestens so gut Bescheid wie seine Ärzte.
Und – so traurig es ist, das hinzuschreiben – er holte auch möglichst qualifizierte Informationen darüber ein, wie man sich erfolgreich umbringt, und als es so weit war, konnte er es: „Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist“, schrieb Kathrin Passig in ihrem Nachwort zu „Arbeit und Struktur“ über seinen Suizid 2013 am Berliner Hohenzollernkanal.
Dieses Ethos des Könnertums, darüber belehrt Rüthers Buch aber auch, war der Grund für sein Scheitern als bildender Künstler. Denn die Verfahrensweisen und Ideale, auf die es Herrndorf ankam – Mimesis, Technik, Tradition – sind in der Malerei seit Beginn des 20. Jahrhunderts programmatisch in den Hintergrund getreten.
Größtmögliche künstlerische Genauigkeit
Demgegenüber steht das nichtesoterische Well-Made-Book spätestens nach den Realismusdebatten der Nullerjahre auch hierzulande nicht mehr unter Trivialitätsverdacht. Deshalb konnte Herrndorfs Expertentum nach seinem Wechsel vom Malen zum Schreiben die Grundlage für einen Publikumserfolg werden, der in seiner Kometenhaftigkeit bis heute in der neueren deutschen Literaturgeschichte kaum Beispiele kennt.
Herrndorfs schreiberische Leistung hat darin bestanden, populären Appeal mit größtmöglicher künstlerischer Genauigkeit zusammenzudenken. Zwei Sätze von Stendhal – „Ich wollte, dass dieses Buch wie der Code Civil geschrieben sei. In diesem Sinne sind alle dunklen oder unkorrekten Sätze zu korrigieren“ – waren sein Mantra und das Programm einer Handvoll glanzvoller Bücher bis hin zu dem posthum erschienenen Personal Essay „Arbeit und Struktur“, einem Buch, wie es in der deutschen Literatur nur wenige gibt.
Tobias Rüther schildert den Lebensweg des mehrfach hochbegabten Schülers, Kunststudenten, Berliner Bohèmiens und schließlich unheilbar kranken Erfolgsautors mit kultursoziologischer Präzision. Der sozialdemokratieaffine Sechziger-Jahre-Lehrerhaushalt in der Eigenheimsiedlung bei Hamburg prägt Herrndorfs lebenslange Leistungsbereitschaft.
Es folgen die still-verbissenen Auseinandersetzungen mit seiner Nürnberger Kunstprofessorin. Die Vertreterin einer Art Spät-Informel wollte ihren Schüler offenbar bekehren zu jener modernistisch gängigen „Verweigerung des genauen Darstellens, des Ausarbeitens bis zum Trompe l’œil“ – so heißt es auf ihrer persönlichen Webseite über ihr Werk.
An der Akademie ein Außenseiter
Herrndorf wird seine akademische Lehrerin später bezeichnen als „die schlimmste, menschlich unangenehmste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist“. Das Gegenprojekt, dem er sich verschrieben hatte, charakterisiert Rüther als den Versuch, „am Ende des 20. Jahrhunderts noch so zu tun, als hätte es all das nicht gegeben: Impressionismus, Expressionismus, Abstraktion. Als könnte man dahinter zurück, einfach so.“
Es macht ihn an der Akademie zu einem isolierten Außenseiter und führt sogar dazu, dass eine seiner Arbeiten in einem öffentlichen Protestschreiben seiner Kommilitonen als „bieder“ und „Schlag ins Gesicht eines jeden Kunststudenten“ denunziert wird: „Hier ist eine Akademie“, heißt es da, „und kein Spießerverein!“
Erst Berlin, wohin der 27-jährige Nürnberger Meisterschüler 1992 übersiedelt, hat ihn befreit. Ausführlich schildert Rüther das kulturelle Milieu, das Wolfgang Herrndorf die Freiräume und Anregungen eröffnete, in denen er seine künstlerische Doppelbegabung produktiv machen konnte.
Er wird Teil einer Boheme gut ausgebildeter und kulturell vielfältig engagierter Leute zwischen zwanzig und dreißig, die sich für traditionelle Karrieren nicht interessieren und stattdessen eine Kultur des kulturellen und wirtschaftlichen Selbermachens propagieren. Ihr Manifest legten Herrndorfs Freunde Holm Friebe und Sascha Lobo 2006 mit dem Buch „Wir nennen es Arbeit“ vor. Sein Untertitel – „Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ benennt die Quellen und Bestandteile einer Kulturindustrie von unten: Freelancing und Internet.
Institutionen, die Berlins kulturelle Szene prägten
Mit der 2001 gegründeten „Zentralen Intelligenz Agentur“, dem Blog „Riesenmaschine“, dem Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“, den „Bunny Lectures“ um Stese Wagner und Ulrike Sterblich und anderen teils kabarettartigen, teils publizistischen, teils nur online greifbaren Hybridformaten schuf sich dieses kulturelle Milieu um die Jahrtausendwende Institutionen, die Berlins kulturelle Szene prägten.
Mit der piratenhaften Umfunktionierung des Bachmannpreises, den Kathrin Passig 2006 gewann (Herrndorf bekam 2004 den Publikumspreis), gelang der Gruppe um Herrndorf der Einbruch in die traditionelle Kunstwelt. Sie nahmen das Geld, genossen den Ruhm und reflektierten das Ganze zugleich ironisch. Ein paar Jahre lang schien etwas grundlegend Neues und Zukunftsweisendes entstanden.
Rüther verfolgt Herrndorfs Entwicklung in diesem kreativen Umfeld anhand der sehr fruchtbaren These, dass sich im Schutz- und Bestätigungsraum der digitalen Bohème das narrative Element, das seiner figurativen Malerei immer schon eignete, allmählich aus dem Bildnerischen löste und im literarisch-erzählerischen Genre zu sich kam.
Übergangsform und missing link dieses Gattungswechsels waren Herrndorfs Arbeiten für das Satiremagazin Titanic und für den Haffmanns-Verlag: teils Karikaturen, teils ironisch altmeisterliche Klassikerparodien wie der Helmut-Kohl-Kalender, der den ewigen Kanzler in Van-Gogh- oder Vermeer-Pastiches hineinversetzte.
Staunenerregend fleißig
Gleichzeitig aber entwickelte sich das Schreiben zur eigentlichen Arbeit. Herrndorf betrieb sie mit demselben Professionalitätsanspruch wie zuvor seine bildnerische Praxis: intensive Studien der jeweiligen Genretradition, begleitende Reflexion des Schreibvorgangs im „Paparazzi“-Forum (aus der „Arbeit und Struktur“ hervorgehen wird), genaue Beobachtung des kollegialen Umfelds.
Vor allem aber war Herrndorf staunenerregend fleißig. Die buchstäblich tage- und nächtelange Arbeit unterbrach er periodisch mit ebenso exzessiven Zügen durch die Bars und Kneipen der postsozialistischen Mitte Berlins.
So entstand das schmale, bis heute weiterwirkende Werk Herrndorfs, dem Rüther eingehende und erhellende interpretatorische Vignetten widmet: zunächst die Achtungserfolge „In Plüschgewittern“ (2002/2008) und „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ (2007), schließlich 2010 der Welterfolg „Tschick“ und das Spätwerk „Sand“, das ihm 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte – er war damals längst todkrank.
Denn das Rührende und Unheimliche dieses Lebenslaufs hat darin bestanden, dass während der nuller Jahre nicht nur der hart erarbeitete Erfolg sich näherte, sondern zugleich auch der Tod in Gestalt eines medizinisch wenig verstandenen, nicht operierbaren und vom Gehirn irgendwie selbst erzeugten Tumors. Kopfschmerzen, epileptische Anfälle, Lähmungen, Sehstörungen, Persönlichkeitsveränderungen („organisch-manisches Syndrom“) kündigten ihn an.
Gründliche und empathische Biografie
Der fiebrige Lebensendspurt nach Bekanntwerden der Diagnose galt dann der Fertigstellung seiner letzten Bücher. Deren finanzieller Erfolg erlaubte den Umzug von der kleinen Hinterhofwohnung in der Novalisstraße an den Hohenzollernkanal und letzte Monate einer Art später und ephemerer Bürgerlichkeit.
Die Waffe, die er sich besorgt hatte, erschien ihm währenddessen als ein „sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt“. Am 26. August 2013, auf einer Parkbank in der Nähe des Strandbads Plötzensee, löschte er die Realität für seine Person aus, an einem der letzten Tage, als es ihm gesundheitlich noch möglich gewesen ist.
Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“. Rowohlt Berlin, Berlin 2023, 382 Seiten, 25 Euro
Rüthers gründliche, kundige und empathische Biografie profitiert davon, dass er so gut wie alle wichtigen Zeugen für das Leben Herrndorfs ausführlich befragt hat. Es gibt wenige so gut dokumentierte Lebensbilder eines Gegenwartsschriftstellers wie sein Buch. Dessen eigentliches Verdienst könnte darin bestehen, dass es das bildnerisch-literarische Doppelvirtuosentum Herrndorfs stereoskopisch vor Augen führt. Nicht zuletzt dadurch wird die Lebensbeschreibung dieses Künstlers ein Kulturpanorama der ersten Dekade eines Jahrhunderts, das er zu früh verlassen musste.
Anm.d.R.: Die Printfassung dieses Textes, erschienen in der Wochentaz vom 12.-18.8., enthält die Behauptung, dass der Siegertext von Kathrin Passig beim Bachmannpreis 2006 kollektiv von der Zentralen Intelligenz Agentur erstellt wurde. Das ist unrichtig. Passig ist die alleinige Autorin. Wir haben diesen Nebensatz in der Onlinefassung gestrichen.
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