Bildungsforscher über Schulsysteme: „Erhebliche Unterschiede“
Bildungsforscher Wilfried Bos über vergleichbare Schulsysteme, Chancengerechtigkeit und Bildungsföderalismus als Experimentierfeld.
taz: Herr Bos, Sie weisen seit Jahren darauf hin, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist. Mehr als 10 Jahre nach Pisa gibt nun die Bertelsmann-Stiftung einen bundesdeutschen Chancenspiegel in Auftrag.
Wilfried Bos: Für mich ist es ein willkommener Anlass, noch einmal den Finger in die Wunde zu legen. Chancengerechtigkeit wird im deutschen Bildungssystem oft ausgeblendet, im Vordergrund steht die Leistung.
Die Chancengerechtigkeit ist also kein Thema für die Kultusminister?
Für einige Ministerien hat sie nicht die höchste Priorität. Manche Bundesländer waren sehr reserviert bei der Herausgabe von Kennziffern über ihr Bildungssystem. Sie haben sich nicht gerade darum gerissen, mit uns zusammenzuarbeiten.
Welche Daten waren denn so geheim?
Wir haben zum Beispiel nicht herausbekommen, welche Abschlüsse Schüler mit Förderbedarf machen, die inklusiv beschult werden, also Regelschulen besuchen, im Vergleich zu Schülern in Sonderschulen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Länder das selbst so genau wissen wollen.
leitet das Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. Als Max-Planck-Forscher arbeitete er an der Pisa-Vorgängerstudie Timss und leitete die Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu.
Was ist das wichtigste Ergebnis der Studie?
Generell ist das deutsche Schulsystem der Chancengleichheit nicht gerade förderlich. Aber es lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern feststellen. Kein Land ist überall top. In Sachsen zum Beispiel gelingt es, das Schulsystem vergleichsweise durchlässig zu halten und die Leistung dabei nicht zu vernachlässigen. Daran zeigt sich: Chancengerechtigkeit und Leistung, das muss kein Widerspruch sein.
Kann man Sachsens Schulsystem wirklich voraussetzungslos mit dem von Bremen oder Berlin vergleichen, wie Sie das tun? Die beiden Stadtstaaten sind in keiner der von Ihnen untersuchten Dimensionen Spitze, aber hier ballen sich auch die sozialen Probleme.
Wir haben uns dafür entschieden, die Ergebnisse ungewichtet nebeneinanderzustellen. Die Frage ist, ob es gerecht ist, dass in Metropolen so viele Menschen in prekären Verhältnissen leben oder ob man da sozialpolitisch nicht viel stärker eingreifen muss. Aber das ist Aufgabe der Politik.
Chancengerechtigkeit bedeutet gleiche Chancen bei ungleichen Ausgangsbedingungen. Wieso messen Sie das Schulsystem nicht an der Chancengleichheit?
Chancengerechtigkeit ist unsere Minimalforderung. Das heißt: Das Schulsystem soll bestehende Unterschiede wenigstens nicht noch vergrößern. Das ist aber zurzeit überall der Fall. Natürlich wünschen wir uns als Pädagogen, dass das Schulsystem dazu beiträgt, soziale Unterschiede auszugleichen.
Ist eine gesamtstaatliche Strategie da nicht hilfreicher als der bestehende Föderalismus?
Zunächst ist der Bildungsföderalismus natürlich ein tolles Experimentierfeld, weil er die Möglichkeit bietet, verschiedene Maßnahmen auszuprobieren. Und das kann gut funktionieren, wenn die Länder ihre Programme evaluieren lassen und auch bereit sind, von den besten zu lernen. Allerdings haben wir zum Beispiel weit über 70 verschiedene Maßnahmen zur Leseförderung gefunden, von denen kaum eine evaluiert ist. Auf dem Gebiet der Leseförderung wäre eine grundlegende Strategie sicherlich gut.
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