Bilanz zum Hannibal-Netzwerk: Warten auf „Tag X“
Die rechtsextreme Gruppe Nordkreuz und das Hannibal-Netzwerk – eine Bilanz nach sechs Jahren Recherche.
D ieser Text erschien zuerst im Sammelband „Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern“, herausgegeben von Heike Kleffner & Matthias Meisner, Herder Verlag.
Das Ende einer der größten Rechtsextremismusaffären im deutschen Sicherheitsapparat könnte ein vierseitiger Strafbefehl sein. Ausgestellt hat ihn das Amtsgericht Ludwigslust im Frühjahr 2023, der Empfänger war ein Mann, der zusammen mit anderen Feindeslisten angelegt, Leichensäcke besorgt und Zehntausende Schuss Munition gehortet haben soll.
Dieser Mann muss, so schreibt ihm das Amtsgericht, 50 Tagessätze zu je 100 Euro zahlen – eine Geldstrafe, die so niedrig ist, dass er sogar weiterhin Waffen besitzen dürfte.
Der Mann heißt Haik J. Als die Ermittlungsbehörden auf ihn aufmerksam werden, ist er Kriminalpolizist in Mecklenburg-Vorpommern und in der AfD aktiv. Das war im Jahr 2017. In jenem Sommer, am 28. August 2017, durchkämmen Beamt:innen des Bundeskriminalamts in der Morgendämmerung seine Wohnung und sein Auto in einer Kleinstadt in Westmecklenburg.
Sie suchen nach Hinweisen darauf, warum er, ein Polizist, sich auf einen „Tag X“ vorbereitete – mithin auf einen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Und was hat es mit der Sammlung von Daten, Adressen aus dem politisch linken Lager auf sich, die der ehemalige Elitepolizist gemeinsam mit einem Anwalt aus Rostock angelegt haben soll?
Die Bundesanwaltschaft verdächtigt Haik J. und den Anwalt damals, einen Terrorakt vorbereitet zu haben. In einer Pressemitteilung schreiben die Karlsruher Strafverfolger: „Darüber hinaus sollen die Beschuldigten den von ihnen befürchteten Krisenfall als Chance gesehen haben, Vertreter des politisch linken Spektrums festzusetzen und mit ihren Waffen zu töten.“
Die Polizei findet 3000 Schuss Munition
Haik J. ist ein hagerer, großer Mann. Als wir ihn wenige Wochen nach der Razzia im Sommer 2017 bei ihm zu Hause antreffen, trägt er eine Jacke der Nationalen Volksarmee und sagt: „Ich kenne keine gefährlichen Leute.“ Dann schließt er nach einem kurzen Wortwechsel die Tür.
Damals war er Mitglied einer Gruppe, die sich monatelang auf den „Tag X“ vorbereitete. Gemeinsam trainierten Polizisten, Bundeswehrreservisten, Männer mit Jagdscheinen, AfD-Mitglieder, Behördenmitarbeiter, wie man Wasser filtert oder kommuniziert, wenn Telefon und Internet nicht mehr funktionieren. Sie legten Vorräte an und beschlossen, sich im Fall der Fälle in einer verlassenen DDR-Ferienhaussiedlung zu verschanzen.
Durch die Razzia im August 2017 fliegt die Gruppe auf. Sie wird als „Nordkreuz“ bekannt. Erst viel später wird klar, dass es überall in Deutschland solche Gruppen gibt, in denen Männer und Frauen an den nahenden Zusammenbruch des demokratischen Rechtsstaats glauben – oder ihn womöglich mit Gewalt selbst herbeiführen wollen – und dafür auch mit Waffen trainieren.
Die Ermittler:innen des Bundeskriminalamts finden damals im Auto von Haik J., in seinem Wohnzimmer und auf seinem Dachboden 3000 Schuss Munition und eine Waffenlampe, eine Art Scheinwerfer für Pistolen, die Privatpersonen nicht besitzen dürfen.
Um es vorwegzunehmen: Das Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft gegen Haik J. und einen Mitbeschuldigten wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach Paragraf 89a Strafgesetzbuch wurde im Winter 2021 eingestellt. In dem Strafbefehl für Haik J. vom Frühjahr 2023 werden Feindeslisten und der „Tag X“ nicht erwähnt, stattdessen geht es nur um die Munition und den Waffenaufsatz.
Ist die Aufklärung also gescheitert?
Haik J. stammt aus Mecklenburg-Vorpommern. In den 1990ern studierte er nach seinem Wehrdienst in Rostock ein paar Jahre Jura und ging dann zur Polizei. Er wird Kriminalkommissar, erst in Hamburg, später in Ludwigslust. Dort soll er seinen Dienstcomputer benutzt haben, um in internen Polizeisystemen sensible Daten von kommunalpolitisch Engagierten, Asylrechtsanwälten und Flüchtlingsvereinen abzufragen.
Verblüffend ist, wie offen Haik J. seine politische Gesinnung zeigt, auch dann noch, als die Vorwürfe gegen ihn schon bekannt sind: Haik J. engagierte sich für die AfD im Landesfachausschuss für „Innere Sicherheit, Justiz und Datenschutz“. Er ist nicht das einzige Nordkreuz-Mitglied mit AfD-Nähe.
Als Komplize galt ein Rechtsanwalt aus Rostock. Als die Vorwürfe gegen ihn kurz nach den Durchsuchungen im Sommer 2017 bekannt werden, distanziert er sich von Gewalt und Extremismus. Er behauptet, eine Feindesliste habe es nie gegeben. Er habe lediglich einige Namen wegen seiner ehrenamtlichen Arbeit notiert.
In den Monaten, in denen sich die Gruppe um Haik J. formierte, hieß es oft, man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen, ihnen zuhören, auch wenn sie mit Rechtsextremen auf die Straße gingen. Es war die Zeit der Verwaltungskrise bei der Aufnahme von Geflüchteten, in der sich die AfD als Partei etablierte, Pegida mobilisierte und Hetzportale wie PI News die Narrative vom „großen Bevölkerungsaustausch“ und von der „Messereinwanderung“ etablierten, ohne dass Verfassungsschutzämter sie für rechtsextrem hielten.
Mit den politischen Debatten ab 2015 fanden Männer und Frauen, die diesen Ideen anhingen, ein neues Feindbild. Und eine neue Form, um ihre völkische Ideologie auszuleben: als Prepper:innen. Immer wieder erzählten uns Nordkreuz-Mitglieder davon: von ihrer vermeintlichen Sorge vor islamistischen Schläfern unter Geflüchteten. Davor, dass die Bundesregierung die Sache nicht im Griff habe und sie nun eben selbst Vorsorge betreiben müssten.
Es gibt überall in Deutschland solche Gruppen
Herbst 2017. Wir, ein Rechercheteam, sind in Westmecklenburg unterwegs auf der Suche nach Menschen, die uns erklären können, was mit dem „Tag X“ gemeint sein soll, was der Begriff „Prepper“ bedeutet, der in deutschen Diskursen damals noch fast unbekannt ist. Wir tauchen unangekündigt im Büro eines Mannes auf, der Nordkreuz-Mitglied ist. Wir möchten mit ihm darüber reden. Der Mann nicht mit uns. Eigentlich.
Ein Polizeioberkommissar in einer Chatgruppe der rechtsextremen Gruppe „Nordkreuz“
Die Lage ist damals unübersichtlich. Strafrechtlich ging es vor sechs Jahren nur um Haik J. und seinen Mitbeschuldigten. Aber wir interessieren uns für die gesamte Gruppe: Haben sich hier in Mecklenburg-Vorpommern Rechtsextremist:innen zusammengefunden, um Anschläge zu planen?
Der Mann wiegelt ab. Vielleicht um sich zu verteidigen, vielleicht um von sich abzulenken, sagt er diesen Satz, der unsere Recherche über Jahre begleitet: Chatgruppen wie Nordkreuz gebe es ja nicht nur hier im Norden, in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch im Osten, Westen und Süden Deutschlands, sagt dieser Mann. Er erzählt uns von einem Administrator, der das Netzwerk der Gruppen zusammenhält, und nennt dessen Decknamen: „Hannibal“.
Belege dafür liefert uns der Mann nicht. Wir tragen sie in kleinteiliger Recherchearbeit zusammen, manchmal helfen uns engagierte Parlamentarier:innen, manches tragen lokale Recherchegruppen bei, uns helfen aber auch immer wieder Männer, die erstaunlich offen über ihre eigenen Umtriebe oder die ihrer Waffenbrüder sprechen, bis sich ein Gesamtbild erkennen lässt: Das Netzwerk, in dem sich Männer und einige wenige Frauen bewaffnen und auf den „Tag X“ vorbereiten, reicht von Bundeswehr über Polizei bis zu Geheimdiensten und anderen Behörden.
Es wurde von André S. alias „Hannibal“ initiiert, damals ein Soldat beim Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, einer Eliteeinheit. Deshalb sprechen wir vom Hannibal-Netzwerk.
Nur harmlose Prepper?
Mit diesem Namen verbindet sich eine wichtige Frage: Wie groß ist die Gefahr, wenn Rechtsextremist:innen in der Bundeswehr, in der Polizei und in anderen staatlichen Institutionen einen „Tag X“ herbeisehnen?
Das Nordkreuz-Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft ist inzwischen Geschichte. Dennoch bleibt der Komplex zentral, nicht nur weil damit weitere juristische Verfahren zusammenhängen, von denen eines Rechtsgeschichte geschrieben hat: die inzwischen rechtskräftige Verurteilung des Bundeswehroffiziers Franco A. als Rechtsterrorist. Sondern auch, weil die Aufarbeitung des Komplexes gezeigt hat, wo die Schwachstellen in deutschen Sicherheitsbehörden zu finden sind.
Winter 2019. Am Landgericht Schwerin kommt es tatsächlich zu einer Art Nordkreuz-Prozess. Beschuldigt ist Marko G., ein früherer Beamter des Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei Mecklenburg-Vorpommern. Er hatte nach dem Auffliegen von Nordkreuz in einem ARD-Interview behauptet, sie seien doch nur harmlose Prepper. Später hat sich herausgestellt, dass Marko G. Zehntausende Schuss Munition bei sich zu Hause hortete – vieles davon aus Polizeibeständen abgezweigt – und illegale Waffen, unter anderem eine Uzi-Maschinenpistole, die bei der Bundeswehr verschwunden war.
Marko G. war als Administrator von Nordkreuz eine der führenden Personen. Das Landgericht Schwerin verurteilte ihn lediglich zu einer Bewährungsstrafe von 21 Monaten, unter anderem wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz.
Überall in Deutschland führt die Justiz Ermittlungsverfahren mit direktem oder indirektem Zusammenhang zum Nordkreuz-Netzwerk. Wir haben nachgezählt und kommen bundesweit auf mehr als drei Dutzend Beschuldigte und sind uns sicher, längst nicht alle Verfahren gefunden zu haben.
Polizisten sollen Munition entwendet haben
Allein in Mecklenburg-Vorpommern wurden oder werden seit der Razzia im August 2017 Verfahren gegen mehr als 20 Personen, die Teil des Nordkreuz-Komplexes sind, geführt. Die Tatvorwürfe: Betrug. Vorteilsnahme. Unterschlagung. Amtsanmaßung. Untreue. Verstoß gegen das Waffengesetz. Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Unter den Beschuldigten sind ein Waffenhändler, ein Schießtrainer, ein früherer AfD-Kommunalpolitiker, der Mitarbeiter einer Waffenbehörde.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das Amtsgericht Güstrow erließ Ende 2021 sogar gegen den langjährigen CDU-Innenminister des Landes, Lorenz Caffier, einen Strafbefehl wegen Vorteilsannahme über 45 Tagessätze (13 500 Euro), weil er sich von einem Waffenhändler aus dem Umfeld von Nordkreuz eine halbautomatische Pistole der Marke Glock schenken ließ.
Da sind die drei SEK-Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern, die Munition aus Polizeibeständen gestohlen und an Marko G. weitergegeben haben sollen. Hinzu kommen Ermittlungen gegen Polizisten anderer Bundesländer – etwa gegen 17 Mitglieder eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) aus Sachsen, die Munition entwendet haben und einem Schießtrainer und Ex-Nordkreuz-Mitglied im Tausch gegen ein Training übergeben haben sollen.
Auf den ersten Blick sieht die Bilanz der Ermittlungsbehörden nach einem Erfolg aus: so viele Personen, die sich erklären und verantworten müssen. Zahlreiche Gerichtsverfahren bieten die Chance, das Netzwerk besser auszuleuchten und Erklärungen zu liefern, warum und wie so ein gefährliches Netzwerk entstehen konnte. Und um beurteilen zu können, wie groß die davon ausgehende Gefahr wirklich ist.
Doch viele der Beschuldigten gelten dann vor Gericht plötzlich als Einzeltäter. Eine Patrone hier, ein Naziwitz da. Als gäbe es den ganzen Kontext, die ganzen Verbindungen nicht.
Rassistische Chatgruppen mit Hakenkreuz-Fotos
Herbst 2020. In Köln findet eine besondere Zusammenkunft statt. Vertreter der Bundesanwaltschaft und der Nachrichtendienste besprechen sich mit dem Landeskriminalamt aus Mecklenburg-Vorpommern und Beamten aus Kommunalverwaltungen, die darüber entscheiden, wer legal eine Waffe besitzen darf.
Die gemeinsame Verabredung: Nordkreuz soll entwaffnet werden. Drei Jahre nach dem Auffliegen der Gruppe. Ob es ähnliche Absprachen auch für die Entwaffnung der anderen Gruppen im Osten, Westen oder Süden des Landes gegeben hat, wissen wir nicht.
In manchen Gegenden Mecklenburg-Vorpommerns sind die Mitarbeiter:innen der Waffenbehörden dann tatsächlich losgefahren und haben die Bescheide zum Entzug der Waffenerlaubnisse in Begleitung von Polizist:innen zugestellt. Manche Nordkreuz-Mitglieder sind dagegen vor Verwaltungsgerichte gezogen.
Der Inhalt der Bescheide und der nachfolgenden gerichtlichen Entscheidungen ist erschreckend. Denn darin legen die Waffenbehörden dar, warum sie es für keine gute Idee halten, wenn Nordkreuz-Leute Pistolen oder Gewehre besitzen. Das liest sich dann beispielsweise so:
Ein Schießtrainer verschickt laut Verwaltungsgericht Schwerin im Jahr 2015 in einem Messenger das Bild einer Torte mit Hakenkreuz, dazu den Text „Unserem Führer zum Geburtstag“, ein anderes Mal versendet er ein Foto eines Schwibbogens mit Reichsadler und Hakenkreuz. Er schreibt rassistische und antisemitische Kommentare, über Jahre hinweg, die er später gegenüber Ermittler:innen als „nicht wirklich geschmackvoll“ bezeichnet. Vom Inhalt distanziert er sich jedoch laut Gericht nicht.
Das Gericht urteilt: „Die Nachrichten lassen darüber hinaus auch eine Bereitschaft zur physischen Gewalt bzw. deren Gutheißung erkennen.“ Der Schießtrainer bekommt seine Waffen nicht zurück.
Auch ein Grundschullehrer war bei Nordkreuz
Ähnliche Aussagen finden die Gerichte auch auf dem Telefon eines Beamten des Landeskriminalamts, er hat deswegen seinen Job verloren und ist vor dem Verwaltungsgericht Greifswald dagegen vorgegangen: 2016 schreibt der Polizeiobermeister, der in den Nordkreuz-Chatgruppen war, eine Nachricht an Administrator Marko G.: „Sag mal, kannst du mir mal 'schöne Lieder‚ auf nen Stick ziehen? ich hab gerade ein bisschen gefallen an soldatenmusik … wenn du verstehst was ich meine.“ Marko G. antwortet: „Germanisches Kulturgut tut gut, besonders in beschissenen Zeiten.“ Er empfiehlt einen rechtsextremen Liedermacher.
Einmal schickt ein anderes Nordkreuz-Mitglied dem Polizeiobermeister einen Link zu einem Verein, der sich für Geflüchtete einsetzt, und schreibt dazu: „kannst du dir merken“. Der antwortet: „du meinst für mein 9×19“ – das Gericht hält das für einen Verweis auf das Kaliber seiner Waffe, 9×19 Millimeter, und entscheidet, die Entlassung des Beamten aus dem Polizeidienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern sei rechtmäßig.
Und da ist der Grundschullehrer, der Kampfsport trainiert und für Nordkreuz Schießtrainings organisiert haben soll. Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern hält im Jahr 2022 fest: „Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Abkehr von seinen antisemitischen und demokratiefeindlichen Überzeugungen.“ Auch seine Entlassung aus dem Landesdienst bestätigt das Gericht.
Ein Forstmitarbeiter, der mit mehreren Nordkreuz-Leuten in engem Kontakt steht, schreibt 2017 auf WhatsApp mit Nordkreuz-Administrator Marko G. Sie sprechen darüber, im Revier des Forstmitarbeiters auf “Distanz„ schießen zu wollen – über 600 Meter. Es klingt, als ginge es um illegale Schießübungen im Wald. Als sich der Forstmitarbeiter 2017 in Hamburg zum G20-Gipfel als Reservist einsetzen lässt, schickt er Marko G. ein Foto und schreibt: “Hier kommt keine Zecke durch …„ Ihm werden die Waffen entzogen.
Und das ist nur Mecklenburg-Vorpommern.
Franco A. ist heute das prominenteste Mitglied der Gruppe
Frühjahr 2021. Der Prozess gegen den Soldaten Franco A. beginnt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Franco A. trägt eine helle Hose, eine braune Weste über einem karierten Hemd und einen grauen Mantel, die Haare sind zum Zopf gebunden. Er ist allein angeklagt.
Franco A. ist heute das prominenteste Mitglied des Hannibal-Netzwerkes. Er war in der regionalen Gruppe Süd aktiv und soll dort versucht haben, sich mit illegalen Waffen zu versorgen.
Die Bundesanwaltschaft wirft ihm die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach Paragraf 89a Strafgesetzbuch vor, er soll sich zeitweise als syrischer Flüchtig ausgegeben haben, auch bei ihm wurden Listen mit Daten von politischen Gegner:innen und Fotos und Skizzen unter anderem der Tiefgarage unterhalb des Büros der Amadeu Antonio Stiftung gefunden.
In der Bundeswehr war Franco A. der Offizier mit den ordentlichen Beurteilungen, stationiert in der renommierten deutsch-französischen Brigade nahe Straßburg. Vor Gericht bestätigt ein Offizier, dass Franco A.s Gesinnung bei der Truppe hinlänglich bekannt gewesen sei.
Franco A. nutzt den Prozess als Bühne: In seinen Aussagen inszeniert er sich als besorgter Bürger, der sich vor Gefahren schützen will. Er erwähnt Hannibals Chatgruppe Süd von sich aus. Die habe er „interessant“ gefunden. Er erzählt, was er in seinem Keller gelagert hat: einen Stromgenerator, Kanister mit Diesel und Benzin, Alkohol, stangenweise Zigaretten, militärische Essensrationen, Wasserkanister, einen Weltempfänger. Munition und Sprengkörper aus Bundeswehrbeständen hatte er zwischenzeitlich bei Freunden versteckt, die deshalb in abgetrennten Verfahren vor Gericht standen – als Einzeltäter.
Antisemitische und rassistische Stereotype
Er habe einen Dritten Weltkrieg zwischen Russland und dem Westen befürchtet, behauptet Franco A. Immer wieder spricht der Anfang 30-Jährige von Wahrsagungen und einem drohenden Bürgerkrieg, fast schon obsessiv wiederholt er antisemitische Stereotype – von der jüdischen Weltverschwörung, die die USA kontrollieren und eine „Vermischung der Völker“ vorantreiben würde.
Auch die angeblichen islamistischen Schläfer, die sich überall in Europa versteckt hielten, erwähnt er. Ein Jahr lang beschäftigte sich das Oberlandesgericht in der Beweisaufnahme ausführlich mit der Frage, ob sich der Bundeswehroffizier Franco A. wirklich auf den Zusammenbruch vorbereitete – oder was er eigentlich vorhatte.
Im Prozess gab Franco A. zu, dass er sich mehrere Waffen illegal besorgt hatte – darunter ein Schnellfeuergewehr G3. Das Gericht hält es für belegt, dass er eine Tiefgarage in Berlin ausspähte, in dem das Auto von Anetta Kahane geparkt war, der langjährigen Vorsitzenden der Amadeu Antonio Stiftung.
Im Juli 2022 schließlich befindet das Oberlandesgericht Frankfurt Franco A. unter anderem der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat für schuldig. Das Strafmaß: fünfeinhalb Jahre Haft. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass Franco A. aus seiner rechtsextremen Gesinnung heraus einen Anschlag geplant hat, der „bestimmt und geeignet“ ist, die Sicherheit Deutschlands zu beeinträchtigen.
Einen konkreten Tatplan stellte das Gericht nicht fest. Für eine Verurteilung nach Paragraf 89a Strafgesetzbuch braucht es das auch nicht. Es reichen Franco A.s seit Jahren gefestigte rechtsextreme, völkische und rassistische Gesinnung, die Waffen und Munition, die Auswahl von Zielpersonen. Und die feste Entschlossenheit, so das Gericht, zur Tat zu schreiten.
Bedrohung durch rechtsextreme Netzwerke
Es ist ein historisches Urteil. Zum ersten Mal wird ein Bundeswehrsoldat wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach Paragraf 89a Strafgesetzbuch verurteilt. Für einige kam die Verurteilung überraschend – zumindest, wenn man sich den gesamten Verfahrensgang anschaut. Derselbe Staatsschutzsenat, der Franco A. im Juli 2022 verurteilte, wollte ursprünglich die Anklage und den Terrorismusvorwurf gar nicht verhandeln. Mittlerweile ist das Urteil rechtskräftig.
Franco A.s Einbindung in das Hannibal-Netzwerk wurde zumindest am Rande in der mündlichen Urteilsverkündung erwähnt. Aber eine Frage war da kein Thema: Wie genau Franco A. an die Munition aus Bundeswehrbeständen gelangte. Ebenso wenig ist klar, wo sich Franco A.s Waffen heute befinden. Er hatte im Prozess behauptet, er habe sie entsorgt.
Frühjahr 2022. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren veröffentlichen das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Verfassungsschutz einen Lagebericht über Rechtsextremist:innen und Reichsbürger:innen in Sicherheitsbehörden, also über Polizist:innen und Soldat:innen, die über besondere Befugnisse, Wissen und Zugänge und Waffenerlaubnisse verfügen.
Dem Hannibal-Netzwerk widmet das Ministerium darin eine ganze Seite – und nennt es sogar explizit: Es verdeutliche „das besondere Bedrohungspotenzial rechtsextremer Netzwerkstrukturen“, wenn ausgerechnet diese Spezialkräfte ihre Fähigkeiten „für Selbstermächtigungsfantasien und gegen die Rechtsordnung zu nutzen“ versuchten. Als konkretes Beispiel nennt das Ministerium einen Schießplatz in Mecklenburg-Vorpommern, über den die Nordkreuz-Leute nicht nur den Zugang zu Behördenmunition erhielten, sondern auch zu Insiderwissen von Spezialeinheiten der Polizei.
Hannibal-Mitglieder gelten als ausgezeichnete Soldaten
Gerade einmal dreieinhalb Jahre zuvor, im November 2018, hatte der damalige Präsident des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) noch behauptet, politisch motivierte Gewaltbereitschaft spiele in der Bundeswehr keine Rolle – just zu dem Zeitpunkt, als Focus und taz unabhängig voneinander zum ersten Mal über das Hannibal-Netzwerk berichteten. „Insbesondere haben wir bisher keine extremistischen Netzwerke entdeckt“, so der inzwischen abgelöste Christof Gramm.
Der tatsächlichen Lage, die damals nicht anders war als heute, näherte sich der Bundeswehrgeheimdienst erst über die Jahre an. Im Herbst 2019 antwortete MAD-Chef Gramm mit „Jein“ auf die Frage nach rechtsextremen Netzwerken und im Juni 2020 bejahend, wenn auch vage: Man finde sehr wohl problematische „Netzwerke und Strukturen“.
Man kann nur dort etwas sehen, wo man richtig hinschaut. Auch Jahre später arbeiten noch Männer bei der Bundeswehr, die Hannibals Chatgruppen – das Fundament des Netzwerks also – mitgegründet haben. Sie gelten als ausgezeichnete Soldaten.
Das Hannibal-Netzwerk hat eine weitere Sicherheitslücke offenbart: Rechtsextremisten, die sich als Reservisten Zugang zur Bundeswehr verschaffen können. Bei Nordkreuz gab es mehrere Männer, die sich über den Reservistenverband militärisch fortbilden ließen und in Bundeswehrkasernen ein und aus gingen. Sie bewegten sich in einer Zuständigkeitslücke der Geheimdienste. Je nachdem, ob sie gerade Zivilisten oder als Soldaten tätig waren, war mal der Verfassungsschutz und mal der MAD für sie zuständig – und im Zweifel schaute niemand hin. Das hat sich erst 2017 geändert. In einer “AG Reservisten„ tauschen sich die verschiedenen Geheimdienste nun über die Problemfälle aus, informieren sich gegenseitig. Zuletzt, im Jahr 2022, bearbeiteten sie dort 621 Fälle, bei den meisten ging es um Rechtsextremismus.
Waffengesetz soll verschärft werden
Herbst 2023. Einiges hat sich also seit Beginn unserer Recherche vor sechs Jahren verändert. Neben den ganz konkreten Maßnahmen – zu denen mit Paragraf 126a Strafgesetzbuch ein neues Gesetz gehört, mit dem der Gesetzgeber das Erstellen von sogenannten Feindeslisten unter Strafe stellt – scheint es zumindest ein Stück weit mehr Sensibilität zu geben: Es gilt nun nicht mehr als undenkbar, dass es Staatsfeinde in Uniform gibt.
Auch bei uns hat sich viel getan. Wir waren damals ein kleines Team bei der taz, inzwischen arbeiten die meisten von uns bei anderen Medien. Bis heute erreichen uns Hinweise. Und vor einiger Zeit hat uns jemand einen ganzen Karton voll mit Devotionalien aus dem Hannibal-Netzwerk geschickt: Krawatten, Orden, Ehrenurkunden eines Vereins namens Uniter e.V., in dem sich Männer aus den Chatgruppen organisierten – und der inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Wir haben ein Netzwerk aufgedeckt, das viele zunächst nicht für gefährlich hielten. Heute ist es eine Referenz, wenn es um die Frage geht: Wie groß ist die Gefahr durch Rechtsextremist:innen in deutschen Sicherheitsbehörden?
Die Arbeit geht weiter. Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern wird sich mit Nordkreuz beschäftigen. Das Disziplinarrecht für Bundesbeamt:innen soll reformiert werden, so sollen beispielsweise strafrechtliche Verurteilungen etwa bei Volksverhetzung schneller dazu führen, dass Beamt:innen ihren Job verlieren.
Auch das Waffengesetz soll noch einmal verschärft werden. Zuletzt wurde mit einer Reform im Jahr 2020 beispielsweise den zuständigen Behörden die Aufgabe zugewiesen, dass Waffenbesitzer:innen alle fünf Jahre überprüft werden müssen und die Behörden dafür mit Verfassungsschutzämtern zusammenarbeiten sollen. Künftig könnte es zudem die Möglichkeit geben, Waffen vorübergehend zu entziehen, wenn der Verdacht auf eine Gefährdung durch Waffenbesitzer:innen besteht.
Heute fällt das Stichwort „Tag X“ häufig
Anfang Juni 2023 schicken wir eine Anfrage an die Staatsanwaltschaft Rostock. Was ist eigentlich aus den Ermittlungen zu den Datenabfragen geworden, die Haik J. und der zweite Beschuldigte für ihre Feindeslisten gemacht haben sollen? Haben sie ihren Zugang zum Polizeisystem ausgenutzt, um politische Gegner:innen auszuspionieren? Wurde so die detaillierte Sammlung zu knapp 30 Personen angelegt, in der sich neben öffentlich zugänglichen Informationen auch sensible persönliche Daten befanden, die handschriftlich hinzugefügt wurden?
Die Antwort der Staatsanwaltschaft Rostock: Das Verfahren wurde eingestellt, der Tatnachweis habe nicht geführt werden können. Die Begründung: „Im Zuge der Ermittlungen konnten Sinn und Zweck von Abruf/Auflistung/Beschaffung der Daten nicht geklärt werden.“
Der Tenor erinnert an eine Aussage des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2019, wonach das Sammeln von Informationen über Privatpersonen „im Bereich der politischen Auseinandersetzung, insbesondere im rechts- und linksextremistischen Bereich“, nicht unüblich und in der Regel auch für niemanden gefährlich sei.
Hört man genauer hin, wenn militante Rechte Pläne schmieden, fällt das Stichwort „Tag X“ inzwischen häufig: Es geht dabei nicht um Naturkatastrophen oder einen Stromausfall, sondern um den Tag, an dem die verfassungsgemäße Ordnung zerfällt. Man kann das als rechtsextremen Akzelerationismus beschreiben. Der Begriff leitet sich von „acceleration“, englisch für Beschleunigung, ab.
Rechtsterroristische Gruppen aus den USA haben die Theorie der Gewaltspirale international salonfähig gemacht; sie gehen davon aus, dass die westlichen Staaten kollabieren werden, weil sie korrupt und nicht mehr zu retten sind. Dieser erwartete Untergang soll beschleunigt werden. Es geht darum, Unruhe zu stiften, für Chaos zu sorgen, einen Bürgerkrieg aktiv herbeizuführen.
Was dann kommen soll, ist unspezifisch. Klar ist nur: Es wird nationalistisch sein und nur für Weiße. Und klar ist auch: Eine Gruppe wie Nordkreuz kann sich jederzeit wieder im Süden, Osten, Westen zusammenfinden – vielleicht sogar mit denselben Leuten. Sie heißt dann wohl nur anders.
Sebastian Erb ist Redakteur im Ressort Investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung.
Martin Kaul arbeitet als Reporter für das Investigativ-Ressort des WDR.
Alexander Nabert ist als investigativer Reporter für BR Recherche/BR Data tätig.
Christina Schmidt ist Redakteurin im Ressort Investigative Recherche und Daten von Zeit und Zeit Online.
Daniel Schulz ist taz-Redakteur im Ressort Reportage & Recherche.
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