Bevölkerungsrückgang in Griechenland: Drei Hochzeiten, viele Todesfälle
„Es erlischt“, sagte der Händler Dimitrios Stamenas lapidar über das Leben in Nea Zichni. Griechenland steht vor gewaltigen demografischen Problemen.
E r huscht von der einen Etage zur nächsten, als wäre er erst Mitte dreißig. Dabei ist er weit über achtzig. Stolz führt Dimitrios Stamenas, blitzsauberes Karohemd, akkurater Scheitel, frisch rasiert, stets neugieriger Blick, durch seinen Laden voller Artikel, den er schon im fernen Jahr 1953 eröffnete. Da war Dimitrios Stamenas gerade einmal 18 Jahre alt.
Ob Geschirr, Spiegel, Besen, Lappen, Fliegenklatschen, Schälmesser oder vieles mehr: Sein Sortiment umfasst nicht nur gefühlt wirklich alles, was ein Haushalt so braucht. „Ta echoume ola“ („Wir haben alles“) ist auch sein treffendes Geschäftsmotto. Seit siebzig Jahren prangt der einprägsame Slogan auf dem seit dem Geschäftsstart gleichen Schild über dem Eingang, gleichwohl in allmählich verblassenden Buchstaben.
Der rüstige Grieche ist unter den Einzelhändlern in dem Dorf Nea Zichni, eine gute Autostunde von der nordgriechischen Metropole Thessaloniki entfernt, seit ewigen Zeiten der unangefochtene Platzhirsch. Ein geborener Verkäufer. Schon früh brachte er es zu Wohlstand, schon lange streicht er eine Rente ein. Davon könnte er locker leben. Dennoch macht er weiter, obgleich die Kundschaft immer rarer wird. „Was soll ich zu Hause tun? Ich werde Tag für Tag in meinem Geschäft sein, bis ich umfalle.“ Seine Augen funkeln, als er das sagt.
Dimitrios Stamenas redet viel, er redet gern, vor allem über alte Zeiten – die guten Zeiten. „Wir hatten hier im Dorf 15 Hochzeiten pro Woche“, sagt er im hier typischen nordgriechischen Idiom, der lokalen Spracheigentümlichkeit. „Wie viele sind es heute, Herr Stamenas?“ Seine so spontane wie lapidare Antwort: „Drei. Im Jahr.“
Der Tabak brachte den Aufschwung
Nea Zichni war einmal ein pulsierender Ort. In der weitläufigen Ebene um Nea Zichni bauten die Bauern in Monokultur Tabak an, bekannt für seine, auch international erstklassige Qualität. Zahlreiche Traktoren fuhren im Sommer bis tief in der Nacht auf die Felder. Der Tabakanbau ist zwar mühsam, er warf aber genügend Geld ab. Viertausend Einwohner lebten hier noch 1961. Schwärme von Kindern spielten allabendlich fröhlich kreischend in den malerischen Gassen im Ort, bis die Sonne unterging.
Dann folgte der Niedergang. Zuerst schleichend, dann immer schneller. Im Sirtaki-Takt. Der Tabak verlor auf den Märkten in Europa und anderswo nach und nach an Wert, ein Strukturwandel vollzog sich hier jedoch nie. Nea Zichni hat weder Berge noch Meer. Die nächsten Strände sind zu weit weg, um Urlauber hierher zu locken. Für das Dorf ist das fatal.
Nea Zichni stirbt. Die Ortschaft hat nur noch eintausend Einwohner. Damit hat Nea Zichni in sechzig Jahren 75 Prozent seiner Einwohner verloren. Tendenz: weiter stark fallend. Die meisten Einwohner sind betagt, viele über achtzig. Sie warten nur noch auf eines: auf ihren Tod. Nea Zichni, das sterbende Dorf, ist in Griechenland kein Einzelfall. Im Gegenteil. Hatte Hellas im Jahr 2005 noch 11,22 Millionen Einwohner, sind es heute genau 10.482.487, wie das griechische Statistikamt Elstat nach der jüngsten Volkszählung bekanntgab. Das bedeutet einen Rückgang um rund 740.000 Menschen oder sieben Prozent – binnen 16 Jahren.
Der deutliche Rückgang betrifft fast ganz Griechenland. Nur zwei von landesweit dreizehn griechischen Regionen konnten in den letzten zehn Jahren einen Anstieg ihrer Bevölkerung verzeichnen: Kreta sowie die Region Süd-Ägäis – der dort boomenden Tourismuszentren Rhodos, Kos, Mykonos und Santorin sei Dank.
Selbst in Attika mit dem Großraum Athen, der mit Abstand bevölkerungsreichsten Region in Griechenland, stellte Elstat von 2011 bis 2021 einen Rückgang um 0,4 Prozent auf nunmehr 3.814.064 Bewohner fest. Auch Hellas’ zweite Metropole Thessaloniki schrumpft. Mit 1,1 Millionen Bewohnern lebten Ende vorigen Jahres eineinhalb Prozent weniger Menschen in der Hafenstadt als noch vor zehn Jahren.
Am Schlimmsten trifft der demografische Verfall die Region West-Makedonien mit einem Minus von 10,3 Prozent im Zeitraum von 2011 bis 2021. Es folgen Ost-Makedonien und Thrakien, minus 7,6 Prozent, Zentralgriechenland minus 7,1 Prozent, sowie die Halbinsel Peloponnes, minus 6,6 Prozent.
„Das ist das Ende einer Epoche“, sagt Nikos Tziaros. Schon seit 38 Jahren backt der 59-Jährige in seinem Geschäft in Nea Zichni köstliche Käse- oder Spinatstrudel sowie leckere Bougatsa, ein griechisches Gebäck mit Käse-, Hackfleisch- oder Spinatfüllung oder als Süßspeise. Er tut das für immer weniger Kunden. „Die Jungen ziehen weg, vor allem ins Ausland“, sagt er und schneidet gekonnt eine Bougatsa in Stücke. „Puderzucker und Zimt?“, fragt er und blickt dabei den Gast an. Der nickt. Früher habe das Dorf noch Abwechslung geboten, auch für jüngere Leute, erinnert sich Nikos Tziaros beinahe wehmütig. „Es gab viele Cafés, Tavernen, sogar ein Kino. Heute ist das so: Bleibt man zu Hause und geht nicht hinaus, dann weiß man: ‚Ich habe nichts verpasst.‘“
Die Bevölkerung in Griechenland schrumpft. Laut dem Statistikamt Elstat zufolge beliefen sich die Geburten landesweit im Jahr 2022 auf nur noch 76.541. So wenige Kinder kamen hierzulande noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen in Athen im Jahr 1932 zur Welt.
Konditor Nikos Tziaros
Unterm Strich starben 2022 in Griechenland 64.260 mehr Menschen, als zur Welt kamen – ein neuer historischer Negativrekord. Mit anderen Worten: Es starben annähernd doppelt so viele Menschen in Griechenland als geboren wurden.
Zum Vergleich: 1932 betrug die Zahl der Geburten noch 185.523, fast zweieinhalb mehr als im Jahr 2022. Zugleich starben 1932 nur 117.593 Bewohner Griechenlands, viel weniger als neunzig Jahre später. Folglich lag der Geburtenüberschuss damals noch bei 67.930.
Der fortgesetzte Sterbeüberschuss, also das Überwiegen der Sterbefälle gegenüber den Geburten, begann 2015 auf dem Höhepunkt der desaströsen Griechenlandkrise. Von 2015 bis einschließlich 2022 kamen in Hellas in Summe 335.315 weniger Kinder zur Welt als Menschen verstarben.
Das größte Problem für Griechenland sind mit Blick auf die schrumpfende Bevölkerung seine sterbenden Dörfer. Ob auf dem Peloponnes, in Westgriechenland oder in Zentralgriechenland: In tausenden Orten in Hellas gehen die Lichter aus. Die sterbenden Dörfer sind die Epizentren des Bevölkerungsschwundes. Unumkehrbar.
Vaja Karagiozoglou hat das Weite gesucht
So wie Nea Zichni. Die jungen Griechinnen und Griechen wandern aus – wie Vaja Karagiozoglou. Sie kam in Nea Zichni zur Welt, besuchte hier die Schule und ging zum Studium der Medizin nach Thessaloniki. Vor fünf Jahren suchte sie das Weite. Die 28-Jährige arbeitet seitdem als Gynäkologin in der Schweiz. Für irre viel Geld im Vergleich zu ihrer Heimat Hellas. „Mein Arbeitstag besteht aus vielen Entbindungen, von sieben Uhr in der Früh bis fünf Uhr am Nachmittag“, erzählt sie lächelnd.
Ihr schmuckes, zweistöckiges Elternhaus liegt ganz zentral in Nea Zichni, einen Steinwurf von der Ortskirche und den Geschäften entfernt. Nach Nea Zichni, ihrem Heimatort, kam sie im September 2021 nur für ein paar Tage zurück, um ihren Partner zu heiraten, der aus einem Nachbardorf stammt. Dann ging es für das junge Paar flugs wieder in die Schweiz. Beide wollen nicht zurück. Schon gar nicht nach Nea Zichni.
Fest steht: Karagiozoglou, die Frauenärztin, hätte in Nea Zichni auch fast nichts zu tun. Denn in Nea Zichni kommen kaum noch Kinder zur Welt. Frauen im gebärfähigen Alter fehlen. So wie Vaja. Ein Teufelskreis.
Befeuert hat den dramatischen Bevölkerungsschwund im Ort die Schließung staatlicher Behörden in den letzten Jahren. Früher gab es hier noch ein Gericht, ein Finanzamt, ein Fernmeldeamt, eine Zweigstelle der gesetzlichen Sozialversicherungskasse. Heute eröffnen im Ort nur noch private Beerdigungsinstitute ihre Zweigstellen. Die Bestatterbranche profitiert von der Entwicklung, sie ist der letzte einträgliche Wirtschaftszweig im Ort.
So wie das erst kürzlich eröffnete Institut „Anapafsi“ („Die letzte Ruhe“). Es empfängt die Angehörigen des Verstorbenen direkt gegenüber dem Elternhaus von Vaja Karagiozoglou, der ausgewanderten Frauenärztin, die in ihrer neuen Heimat, weit weg von Nea Zichni, täglich die Geburten überwacht.
Den Bevölkerungsschwund können auch die von der Regierung in Athen ergriffenen Maßnahmen nicht bremsen. Das Kindergeld für ein jährliches Haushaltseinkommen von bis zu 15.000 Euro beträgt derzeit 28 Euro pro Monat und Kind. Peanuts. Immerhin soll das Kindergeld im neuen Jahr deutlich erhöht werden.
Bei der Geburt zeigt sich der griechische Staat jedenfalls großzügig. Das Geburtsgeld beläuft sich seit dem 1. Januar 2020 auf 2.000 Euro. Bei Zwillingen werden 4.000 Euro bezahlt, bei Drillingen 6.000 Euro. In Nea Zichni wird dennoch vor allem gestorben. Leise. Wo heute Anapafsi die Türen aufhält, bot zuvor ausgerechnet ein Fremdspracheninstitut Kurse für Schulkinder an. Doch die Klassen wurden immer kleiner. Mit Gewinn arbeiten? Nicht mehr möglich. Klarer als an dieser Stelle im Ort ist der demografische Wandel nicht zu greifen.
Die unweigerliche Folge, die in ganz Griechenland gilt: Nicht nur die Zahl der Menschen nimmt immer weiter ab, auch der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt unweigerlich: Im Schnitt sind Hellas’ Bewohner heute fast 46 Jahre alt – ein Höchstwert in Europa. Die Lebenserwartung ist ebenfalls hoch: Griechinnen werden im Schnitt 83,3 Jahre alt, Griechen 78,1 Jahre.
Dabei ist das Ende in dieser Konstellation aus Abnahme der Bevölkerungszahl bei gleichzeitig zunehmender Alterung noch lange nicht abzusehen: Laut Prognosen wird Griechenland im Jahr 2030 nur noch 9,9 Millionen Menschen zählen, ihr Durchschnittsalter: 49,7 Jahre – im Schnitt rund vier Jahre mehr als heute. Schlimmer noch: Im Jahr 2050 wird Hellas wohl nur noch neun Millionen Bewohnerinnen und Bewohner haben. Im Schnitt werden sie dann 53,4 Jahre alt sein, siebeneinhalb Jahre älter als heute. Immer weniger Menschen, immer ältere Menschen.
Kein Wunder, dass Bevölkerungsforscher, Ökonomen und auch manche Politiker in Athen Alarm schlagen. Nicht die weiterhin enorm hohe Schuldenlast sei die Herausforderung Nummer eins, sondern der sich beschleunigende demografische Zusammenbruch zu Füßen der Akropolis, warnen sie.
Das stößt ausgerechnet bei den Regierenden in Athen auf taube Ohren. „Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Für die tragische demografische Entwicklung sind alle griechischen Regierungen verantwortlich. Sie haben nicht die erforderlichen drastischen und effizienten Maßnahmen ergriffen“, kritisiert Manolis Drettakis, ein ehemaliger Minister in Athen, der sich schon lange mit dem demografischen Wandel in Griechenland beschäftigt.
Manilos Drettakis, Ex-Minister
Für Dimitrios Stamenas, den wackeren Einzelhändler in Nea Zichni, ist derweil ein weiterer Arbeitstag zu Ende gegangen. Ein paar Kundinnen und Kunden hat er bedient. Immerhin. Und wie sieht er Nea Zichnis Zukunft? Prompt sagt er: „Swinei!“ – „Es erlischt!“ Er hat erfahren, dass eine weitere Bewohnerin aus dem Dorf gestorben ist.
Am 3. November brach der Ladenbesitzer selbst in seinem Geschäft zusammen und starb – Herzinfarkt. Dimitrios Stamenas wurde 88 Jahre alt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin