Betreuer über das Sterben in der Pflege: Ich jedenfalls hätte Angst bekommen
Was tun, kurz vor dem Tod? Warum ist Sabrina fröhlich, während Peter jede Berührung als Zumutung empfindet? Ein Einblick in die Realität sozialer Arbeit.
Wenn einer tot ist, sollen wir folgendes tun: Wir sollen den Hausarzt kontaktieren, die Bereichsleitung und die Kollegen der Nachbargruppe, damit die sich um die übrigen Bewohner kümmern. Dann sollen wir lüften, die medizinischen Geräte ausschalten und das Pflegebett runterfahren. Wir sollen die Windel und – wenn möglich – die Kleidung wechseln, eine Kinnbinde anlegen, die Augen des Verstorbenen schließen, Münzen auflegen und seine Hände falten. Und wir sollen Kissen und Bettdecken entfernen, um den Verstorbenen am Ende mit einem Laken abzudecken.
Und dann sollen wir warten.
Ich habe den Vorbereitungszettel, der all das aufführt, schon oft gelesen. Ich weiß nicht, wie ich mich bei einem Todesfall verhalten werde. Ich habe schon viele Menschen sterben sehen, aber noch nie einen Toten. Ich glaube nicht, dass dann etwas in mir zerbersten wird und ich einen Nervenzusammenbruch haben werde, aber sicher wissen tue ich es nicht.
Ich arbeite mit geistig Behinderten, die ganztägige Betreuung brauchen. Es handelt sich um Menschen mit vorgeburtlicher oder frühkindlicher Schädigung. Eine dieser sogenannten vorgeburtlichen Schädigungen ist Trisomie 21, vier der sechs Bewohner meiner Gruppe sind Downies. Die Lebenserwartung bei Downsyndrom ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, was maßgeblich mit den Fortschritten der Herzchirurgie zusammenhängt: Die meisten Downies haben Herzfehler, Löcher in der Scheidewand oder Herzklappeninsuffizienzen oder beides. Früher hat sich da kein Chirurg rangetraut, inzwischen ist diese Art Operation Routine. Deswegen werden Downies im Schnitt inzwischen 60 Jahre alt.
Die meisten Downies erkranken recht früh an Alzheimer-Demenz, manche bereits in ihren Vierzigern. Es beginnt oft mit genereller Verwirrung, dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und Einschränkungen im motorischen Bereich. Meistens stürzen die Bewohner irgendwann, brechen sich die Hüfte oder den Oberschenkelhals, und weil die Reha fast immer mangels Motivation abgebrochen wird, nutzen sie von da an einen Rollstuhl. Ihre Sprache verblasst, sie schlafen länger, irgendwann – nach drei Jahren oder fünf – lässt der Schluckreflex nach. Flüssigkeit kommt in die Atemwege, sie holen sich eine Lungenentzündung und sterben an Multiorganversagen.
„So alt wird keine Sau“
Wenn ich von den Sterbenden erzähle, die ich mitangesehen habe, schauen die meisten sehr betroffen. Allein das Wort Alzheimer löst in vielen Menschen eine tiefe Angst aus und ein Bedürfnis nach Nähe und Einverständnis. Die meisten scheinen zu glauben, dass dem Sterben etwas universelles anhaftet, etwas, was alle Menschen verbindet; dass das Leid, denn Sterben und Krankheit werden oft mit Leiden assoziiert, am Lebensende allen Menschen gemein ist und auch ihnen einmal droht.
Ich bin mir da nicht sicher. Ich halte den universellen Anspruch für einen sentimentalen Trugschluss. Das sind Vorstellungen, die in Welten entstehen, wo nicht viel gestorben wird.
Es wäre übertrieben zu sagen, dass der Tod in meiner Einrichtung zum Alltag gehört; aber er hat hier schon seinen Platz. Er ist immer wieder Thema, sei es, weil Angehörige der Bewohner die 80 überschreiten, sei es, weil ein Mitbewohner, eine Mitbewohnerin langsam abbaut. Es ist recht selten, dass der Schock eines Todes zu psychischen Krisen führt. Ältere Kollegen erzählen gern von einem Bewohner, der sein Leben lang sehr eng mit seiner Mutter war, bis sie eines Tages an Altersschwäche starb. Die Betreuer berieten lange, wie man es ihm beibringen solle, bis einer ihm während des Abendessens – es gab Schnitzel – eröffnete, das Muttchen sei nicht mehr. Der Bewohner sah von seinem Teller auf, fragte kurz: „Wie alt?“, man antwortete ihm („76“), woraufhin er sich ein großes Stück Fleisch abschnitt und sagte: „So alt wird keine Sau.“ Und damit war das Thema vorbei.
Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, dachte ich: Wie furchtbar. Inzwischen denke ich darüber nichts mehr: Es entsprach seiner Gefühlslage. Und das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die man lernt, wenn man in der Sozialen Arbeit tätig ist: Es ist absolut sinnlos, sich über die Gefühle anderer zu empören. Verwundert sein reicht, und oft genug merkt man irgendwann, dass man mehr über sich selbst verwundert ist als über den anderen.
Sie lebt völlig im Moment
Bei Sabrina zum Beispiel. Sabrina ist im Endstadium Alzheimer. Sie schläft sehr viel, sie spricht kaum noch. Inzwischen hat sie ungefähr alle drei Wochen einen Grand-Mal-Anfall, verursacht durch die Läsionen im Gehirn, und zeitweilig fällt ihr Schluckreflex aus.
Und doch hat sie mehr Spaß am Leben als viele meiner Freunde. Abends liegt sie im Bett und lacht. Besonders liebt sie es, wenn man die Bettdecke schüttelt, während sie darunter liegt. Dann ruft sie „hui“ und gluckst. Sie lebt völlig im Moment. Sie hat das Entgleiten von Dauer und Erinnerung, das mit Demenz einhergeht, nie als Verlust gespürt. Es ist keine Entscheidung ihrerseits, nun glücklich zu sein, kein Akt des Widerstandes gegen die Krankheit, sondern ein grundsätzlicher Wesenszug. All die Formulierungen, die regelmäßig gewählt werden, um Todkranke zu beschreiben – das Schicksal annehmen und ertragen, sich fügen und akzeptieren lernen – all diese Formulierungen passen nicht auf sie. Sie ist nach und nach hineingeglitten in diesen Zustand, ohne sich darüber klar zu sein, dass es Alternativen geben könnte, ohne in einen Konjunktiv zu verfallen. Sie muss keinen Widerspruch auflösen, weil sich ihr kein Widerspruch aufgetan hat.
Das ist nicht die Regel, es gibt keine Regel. Ich habe inzwischen genug Alzheimer-Verläufe gesehen, um gewisse Muster zu erkennen, um abschätzen zu können, wann welche medizinischen Schwierigkeiten auftreten können; mit den sterbenden Bewohnern aber hat das nichts zu tun. Auf dem Papier sieht Peters Fall exakt aus wie Sabrinas. Gleiches Alter, gleiche Diagnose, gleicher Verlauf.
Und doch haben beide für mich nicht das mindeste miteinander zu tun. Wo Sabrina ob einer unerwarteten Berührung, eines überraschenden Geräusches interessiert hinsieht, zuckte Peter angstvoll zusammen; wo Sabrina abends entspannt im Bett liegt und kichert, da krümmte sich Peter in völliger Anspannung, jeden Muskel gespannt, die Augen angstvoll aufgerissen. Sabrina spricht kaum mehr, aber wenn sie etwas sagt, beispielsweise beim Essen, dann „Hmmm, lecker“ oder etwas in der Art; von Peter hörte man fast ausschließlich langgezogene Ahs, die ich als Klagelaute verstanden habe. Das letzte Wort, das er vor seinem Verstummen noch regelmäßig sagte, war „Scheiße“.
Erschöpft zwischen den Kissen
Es war nicht möglich, ihm zu helfen, mir jedenfalls nicht. Ich glaube, Peter wird uns gehasst haben, wenn wir ihn wuschen und anzogen und pflegten; mindestens aber hat er oft nicht verstanden, was geschah, und darüber Angst bekommen.
Ich jedenfalls hätte darüber Angst bekommen.
Ich hatte mir bis dahin keine Vorstellung davon gemacht, was für eine Zumutung so ein fremder Körper sein kann. Wann kommt man einem anderen Menschen schon so nah, obwohl er diese Nähe nicht will, noch nicht einmal versteht? Aber natürlich wäre es nicht humaner, ihn liegenzulassen. Vor allem nicht für die Betreuer: Natürlich arbeiten wir auch daran, nicht selbst zu verkommen, uns das nicht egal sein zu lassen.
Peter starb vor vier Jahren, in einem Krankenhausbett. Die Woche zuvor habe ich ihn täglich besucht. Sein Atem rasselte, er lag völlig versunken und erschöpft zwischen den Kissen und stöhnte nicht mehr. Sein Gesicht war eingefallen und von grauen Bartstoppeln überzogen.
Ich hatte frei an diesem Tag, es war Sommer. Der Anruf kam, als ich mit einem Bier auf einer Terrasse saß. Ich nahm ab, nickte, bedankte mich fürs Bescheid sagen, legte auf und nahm ohne Unterbrechung wieder das Gespräch auf, das wir zuvor geführt hatten. Als ich wiederkam, war sein Zimmer schon ausgeräumt. Zur Beerdigung bin ich nicht gegangen. Bald schon zog die nächste Bewohnerin ein, Sabrina.
Ich hoffe sehr, dass Sabrina noch lange lebt, aber ich denke auch, dass ich das mehr mir wünsche als ihr. Sie hat keine Vorstellung von Dauer, glaube ich. Und doch tue ich jeden Tag so, als wäre das anders.
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