Besucher*innenansturm im Harz: Elend will einsam bleiben
Der Harzer Tourismusverband appelliert an Tagestourist*innen, zu Hause zu bleiben oder die Wanderwege in tieferen Lagen zu nutzen.
![Ein Mann zieht einen Schlitten mit Kind über einen Waldweg. Ein Mann zieht einen Schlitten mit Kind über einen Waldweg.](https://taz.de/picture/4601115/14/183657594_b4f4cd8669-1.jpeg)
Etwa 10 Kilometer weiter im Bergort Braunlage ist die Stimmung am frühen Vormittag dagegen ruhig. Seit November haben die touristischen, kulturellen und kulinarischen Angebote der Region geschlossen – durch die Verschärfung des Lockdowns im Dezember änderte sich hier wenig. Lediglich ein grummeliger Tankstellenwart ist auf seinem Posten und schimpft über die Unmengen an Besucher*innen, von denen er aus dem Radio erfahren habe.
Am nahen Wurmberg ist von der Überfüllung kaum etwas zu spüren. Katrin Garke, aus dem circa 20 Kilometer entfernten Ströbeck, wandert mit ihren Kindern den Rodelberg im Schneetreiben hinauf. Die Familie hat eine Stunde Anfahrt für das Wintervergnügen in Kauf genommen. „Wir brauchen den Ausgleich in Zeiten der Pandemie“, sagt die Mutter. Man achte auf den Abstand zu anderen und sie sei ja auch nur mit ihren Kindern unterwegs.
Im Windschatten der Bodenstation des Hexenritts, eines geschlossenen Schlepplifts, stehen zwei Männer in dicken Anoraks und Schals und trinken Tee. Björn Wiedemann und Marko Große wohnen in der Nähe und sehen die Situation gelassen. Überfüllt sei es nur in Richtung Harzburg, meint Wiedemann. Es fehlten eben Parkplätze, der Andrang sei aber bei diesem Wetter normal. Überall gebe es Vernünftige und Unvernünftige und natürlich halte sich manche*r nicht an die Vorgaben. „Ein Einkauf im Supermarkt ist da viel enger und riskanter als der Winterspaß!“, findet Große.
Heißgetränke und Gelassenheit
Aus den Lautsprechern eines Foodtrucks am Fuß der Piste dröhnt ganz im Aprés-Ski-Style der 90er-Eurodance-Song „Cotton Eye Joe“. Schilder weisen auf die Maskenpflicht und das Abstandsgebot hin. Ein Verzehr der Bratwürste direkt im Umfeld des Trucks ist nicht gestattet. Gery Chouieb steht hinter dem Tresen und serviert Heißgetränke.
Ein Gros der Besucher*innen halte sich an die Regeln, sagt er, und dass der Kampf ums finanzielle Überleben als Freiberufler in der Coronapandemie hart sei. Von den Verkäufen hier könne er zwar nicht leben, aber Kleinvieh mache eben auch Mist. Gerade mit Blick auf die Kinder, die am Hang toben, findet auch er, man solle das entspannt sehen. Denn Kinder bräuchten eben gerade in Zeiten von Ferien, Schulschließungen und Lockdown mal etwas Auslauf.
Tatsächlich scheinen die Leute hier von den alltäglichen Qualen nach einem Dreivierteljahr Pandemie abschalten zu können. Lachend und schreiend landet so manche*r mit viel Schwung in einer Schneewehe und fällt vom Schlitten. Die Rodler*innen scheinen aus allen gesellschaftlichen Schichten zu kommen, teures Equipment hat hier kaum eine*r.
Um den Fluss von Besucher*innen kontrollieren zu können, sperrt die Polizei am frühen Nachmittag dann noch die Zufahrt nach Schierke – einer der Orte, von denen aus der Brocken zu Fuß erreichbar ist. Im dichten Schneetreiben wandern hier unzählige Gruppen auf den höchsten Punkt des Mittelgebirges. Manche*r schleppt einen Kasten Bier auf einem Plastikbob hinter sich her.
Am Gipfel im eisigen Schneesturm drängen sich durchgefrorene Wanderer*innen wie Pinguine hinter die Ecke des geschlossenen Brockenhotels. Eine Möglichkeit zur Einkehr gibt es auch hier derzeit nicht.
Der Lockdown ist überall spürbar. Auch die beliebte Dampflok der Harzer Schmalspurbahn steht momentan still. Lediglich auf einer Teilstrecke gibt es Zugverkehr. Am Abend steigen in Schierke nur wenige in den kleinen Behelfswagen, der nach Wernigerode hinabfährt.
Eigentlich freue man sich über Besucher*innen und der wirtschaftliche Aufwärtstrend der Region in den letzten Jahren sei sehr erfreulich, sagt Carola Schmidt, Geschäftsführerin des Tourismusverbandes. Da aber alle Angebote wegen des Lockdowns seit dem 5. November geschlossen seien, könnten die Tourist*innen nicht versorgt werden. Durch unzählige Tagesausflügler*innen käme es dann zu den unschönen Szenen und zu Staus. Normalerweise seien An- und Abreise entzerrt, aber die Region könne einen solchen Ansturm in so kurzer Zeit nicht verkraften.
Deshalb appelliert Schmidt an die Tagestourist*innen, zu Hause zu bleiben: „In einer Pandemie gibt es andere Prioritäten.“ Auch in den tieferen Lagen gebe es – abseits des Trubels – viele attraktive Wanderwege, an denen es freie Parkplätze gebe und auf denen Abstandhalten kein Problem sei.
Am Abend sind in Braunlage und dem benachbarten Ort Elend die Lichter in den Zimmern der Hotels alle erloschen. Die Region liegt weiß gepudert im Schlummer. Vom Ansturm ist nicht viel geblieben – außer aufgeregte Medienberichte.
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