Bestattungen in Zeiten von Corona: Trauern per Video
An Bestattungen dürfen derzeit nur wenige Angehörige teilnehmen, gesucht werden neue Formen der Trauer. Eine Recherche im Angesicht des Todes.
D ie Beerdigung des Mitglieds einer Großfamilie in Coronazeiten dürfte für Schweißperlen auf der Stirn einiger Berliner Beamten gesorgt haben. Nicht irgendeiner Großfamilie, sondern des Remmo-Clans, der unter anderem mit dem Raub der Goldmünze im Bode-Museum in Verbindung gebracht wird. So geschehen in Berlin, als die Mutter von Issa Remmo auf einem Friedhof in Berlin-Schöneberg beerdigt werden sollte. 150 Menschen hatten sich angekündigt, die Polizei verhandelte vorab mit der Familie, schließlich gab es eine Liste von 60 Personen, die in drei Gruppen, je 20 Personen, nacheinander die Grabstelle aufsuchen durften. 250 Polizist*innen waren im Einsatz, um den Friedhof großräumig abzuriegeln. Es gab keine größeren Zwischenfälle.
Das war am 27. April, die Verordnung des Berliner Senats für Trauerfeiern war bereits gelockert. Waren in den ersten Wochen der Coronapandemie Trauerfeiern in geschlossenen Räumen komplett untersagt, viele Friedhöfe für die Öffentlichkeit geschlossen, keine Musik und nur bis zu zehn Anwesende erlaubt, dürfen es nun 20 Personen sein.
„Panikverbote“ nennt es Jan Möllers von memento Bestattungen, die ihm anfangs die Trauerbegleitung erschwert haben. Und die vor allem die Menschen, die um jemanden trauern, vor riesige Probleme und Nöte stellen.
Nicht nur die Trauer, auch der Prozess des Krankseins, des Sterbens unterliegt strengen Regelungen. „Kontaktverbote können bei Hinterbliebenen Angst- und Schuldgefühle auslösen“, sagt die Trauerforscherin Heidi Müller. „Wie ging es dem Verstorbenen? Musste er leiden? Das sind Fragen, die verlangen Antworten.“
Bestattungsunternehmen: systemrelevant oder nicht?
Für das Organisatorische ist in der Regel ein Bestattungsunternehmen zuständig. Memento ist eine kleine Firma, in einem Ladenlokal im ruhigen Berliner Stadtteil Friedenau ansässig. Keine dunklen Särge, die einschüchternd im Schaufenster stehen, im Beratungszimmer dafür einige Urnen im Regal, aus Filz, Holz, Keramik. Memento arbeitet derzeit in Zweierteams. Jan Möllers, 42, und Cassandra Yousef, 31, haben am jeweils äußeren Ende einer Bank im Vorgarten Platz genommen.
Sind Bestattungsunternehmen in Berlin systemrelevant? „Wir gehören zu den handwerksähnlichen Betrieben“, sagt Möllers. „Aber inzwischen hat man uns als systemrelevant anerkannt.“ Neben dem Organisatorischen – von der Sterbeurkunde bis zur Überführung ins Krematorium – betreuen die Mitarbeiter*innen bei memento Familien und Zugehörige. Die Trauerbegleitung, wie es in der Branche heißt, stehe im Vordergrund. „Unsere erste Frage ist stets eine Variante der Frage: Was ist Ihnen am wichtigsten?“, sagt Yousef.
Memento kümmert sich um Särge und Urnen, Blumengestecke, Musik. Und man geht auf die Wünsche der Hinterbliebenen ein: Friedhof oder Friedwald, Pfarrer*in oder Trauerredner*in? „Wir sind keine Sargverkäufer“, sagt Cassandra Yousef. „Bestatten ist ein unglaublich vielseitiger Beruf“, davon ist die studierte Islamwissenschaftlerin überzeugt.
Derzeit finden bei memento nicht mehr Bestattungen statt als sonst, zwei bis drei pro Woche. Auch statistisch gibt es bisher durch Corona in Deutschland nur wenig mehr Sterbefälle als üblich. Einen Coronatoten hatten sie bei memento noch nicht. Dennoch bekämen sie mehr verunsicherte Anfragen als sonst, erzählen die zwei Bestatter*innen. Gerade in den letzten sechs Wochen vor dem Tod eines Menschen geschehe in der Regel sehr viel, und davon seien Angehörige durch das Kontaktverbot in Krankenhäusern, Hospizen und Pflegeheimen meist ausgeschlossen. Erst wenn ein Mensch tatsächlich im Sterben liegt, dürfen Angehörige ihn besuchen. „Das Davor fehlt“, sagt Möllers. „Es entsteht eine Lücke im Sterbeprozess.“
Die Lücke, die durch den Tod endgültig wird. „Wir versuchen, es möglich zu machen, dass die Menschen nicht aus Angst auf den Abschied verzichten.“ Dazu gehören Ersatzrituale, die individuell entwickelt werden, die passen müssen. „Wir machen auch gute Erfahrungen, wie man unter den neuen Bedingungen Abschied nehmen kann“, sagt Yousef. Die Leute wüssten mittlerweile Bescheid, ließen sich auf die widrigen Umstände ein.
Trauerfeier per Video übertragen
Gudrun Helms, 74, hat sich darauf eingelassen. Ihr blieb nicht viel anderes übrig. Seit 1964 lebt sie in den Vereinigten Staaten. Ihre Mutter, Gerda Scheiringer, starb 101-jährig im Dezember. Cassandra Yousef hat sie im vergangenen Sommer noch kennengelernt und die Begleitung organisiert. „Meine Mutter wusste, wo es hingeht und mit wem“, sagt Helms am Telefon. Zur Einäscherung im Januar wollte sie nicht kommen, im Winter herrschen in Wyoming schwierige Wetterverhältnisse. Sie hoffte, zur Beisetzung der Urne anreisen zu können. Die weltweite Pandemie machte den Plan zunichte.
„Ich hatte mir das in Berlin so schön vorgestellt“, sagt Helms. „Aber so war es vielleicht noch schöner.“ Zwei kleine Fläschchen mit der Erde vom frischen Grab ihrer Mutter sind mit der Post unterwegs. Den Film von der Beisetzung der Urne am 9. April auf dem Schöneberger Alten Matthäus-Friedhof hat sie schon zum Download bekommen. „Nicht dass ich mir das Video dauernd angucke“, sagt die 74-Jährige, „aber ich schlafe besser. Ich habe dieses Ende positiv erlebt.“
Helms kennt den Friedhof von früher her, und sie hat eine ungefähre Vorstellung davon, wo ihre Mutter liegt. Spätestens im nächsten Jahr will sie nach Deutschland kommen und das Grab besuchen. Nach dem Telefonat schickt Gudrun Helms eine E-Mail hinterher: „Die virtuelle Beerdigung war meine ganze persönliche Zeit und ich konnte mich total auf den Moment konzentrieren“, schreibt sie.
Ist das Filmen und Streamen von Beerdigungen also ein möglicher Ersatz für eine Trauerfeier? „Zuschauen ist nicht dasselbe wie Miterleben“, sagt Yousef. „Und man kann nicht einfach nur filmen und streamen. Es braucht Vorbereitung.“ Es braucht An- oder Zugehörige, die Bilder schicken, Briefe schreiben, ein Lied singen, ein Gedicht sprechen, Versatzstücke eines Lebens zusammentragen. Und es braucht außer Vorbereitung auch Macher*innen.
Burkhard Bornemann, Pfarrer der evangelischen Zwölf-Apostel-Gemeinde in Berlin-Schöneberg, hat Gerda Scheiringer beigesetzt. Er stimmte zu, sich bei seiner Traueransprache filmen zu lassen. „So stehen wir alle – hier und dort – unter dem Segen Gottes“, sagte er, vor sich die Urne auf einem kleinen Tischchen im Freien, und sprach Gudrun Helms damit direkt an.
Knapp zwei Wochen später steht er auf dem Friedhof vor der Kapelle, die damals geschlossen bleiben musste. Gerda Scheiringers Grabstelle befindet sich im „Kleinen Garten der Ewigkeit“ auf dem Alten Zwölf-Apostel-Friedhof. Ein Herz mit verblühten roten Rosen liegt an der Stelle, wo ihre Urne inmitten eines kleinen Skulpturenparks unter der Erde ruht. Gudrun Helms wird dieser Ort gefallen.
Wie ist Burkhard Bornemanns Erfahrung in der Coronakrise? „Die Familien gehen insgesamt gut damit um“, sagt der Pfarrer, „obwohl es für sie sehr schwer ist, weil Nähe kaum möglich ist. Keine Hand, die man anfassen kann. Keine Schulter, an die man sich anlehnen kann.“ In der Regel hat er alle sieben bis zehn Tage eine Beerdigung, zu einem Sterbenden wird er als Pfarrer nur noch „sehr selten“ gerufen. Schon mehr als 30 Jahre arbeitet der 56-Jährige, der an diesem Frühlingstag eine schwarze Hose, dazu ein zartrosafarbenes Hemd und eine schwarze Lederjacke trägt, schon als Pfarrer. Doch an ihm geht die Pandemie deshalb keineswegs spurlos vorüber. „Ich habe lange gedacht: Ich komme klar“, erzählt Bornemann. „Doch dann habe ich von Situationen geträumt, in denen ich Menschen in den Arm nehmen wollte, und genau in dem Moment bin ich hochgeschreckt.“ So schnell habe er also die Maßnahmen verinnerlicht, stellt er fest.
Bornemann wäre froh, wenn die Feierhalle, ein 60er-Jahre-Bau mit bleiverglaster Fensterfront, bald wieder benutzt werden könnte. Ein Kirchenmitarbeiter öffnet die Kapellentür und vermisst schon mal per Augenmaß die Abstände. Wenn er alle zwei Reihen je zwei Menschen am äußeren Ende einer Bank platziert, würde die Kapelle dann 20 Leute fassen? Auch in Zukunft werden Trauerfeiern nicht einfach sein. „In der Kapelle herrscht größere Ruhe, mehr Konzentration als draußen“, sagt Pfarrer Bornemann. „Man kann sich auf die Toten fokussieren.“
„Eine Kapelle hat vier Wände, da ergibt sich der Raum automatisch“, sagt Jan Möllers. „Draußen muss man den Raum erst gefühlsmäßig schaffen. Wir haben eine Form, den Raum, der eine bestimmte Funktion hat. Und wenn dann der Raum wegfällt, muss man die Form ändern.“ Der Bestatter glaubt, es lassen sich neue Rituale finden. Statt des üblichen Erdwurfs eine Schale mit Blütenblättern. Nicht eine große Schale, in die alle hineinfassen müssen, sondern für jede*n eine kleine, ohne Infektionsgefahr. Die Schälchen kann man im Freien in einem Kreis aufstellen, der Verbundenheit unter den Anwesenden und mit dem oder der Toten schafft.
Der Verlust: Wie öffentlich muss er sein?
Ob fünf, zehn oder zwanzig Trauergäste anwesend sein dürfen, die Begrenzung der Personenzahl ist vorerst da, auch wenn die Bestimmungen je nach Bundesland schwanken. Aber braucht es wirklich Öffentlichkeit für eine Beerdigung? Ist es wichtig, möglichst viele Leute zu versammeln? Ist Trauer nicht vielmehr eine ganz private, intime Angelegenheit?
„Um einen Verlust zu verarbeiten, braucht es keine Öffentlichkeit“, sagt die Trauerforscherin Heidi Müller am Telefon, „sondern das Zusammenkommen von Freunden und Angehörigen. Dadurch können Anteilnahme und Wertschätzung erfahren werden.“ Öffentlichkeit im Sinne von: Gemeinschaft, Gemeinsamkeit. Müller arbeitet als Beraterin und Wissenschaftlerin am Frankfurter Trauerzentrum. Sie ist mit der Unklinik in Gießen assoziiert. Die Politologin, 48, promoviert über „komplizierte Trauer“ – Menschen, die über ihre Trauer nicht hinwegkommen. Ist denn der Tod im Moment, wo alle über Corona reden und die Bilder des die Särge abtransportierenden italienischen Militärs fast ikonografischen Charakter haben, weniger tabu als sonst?
Es sei eines der großen Missverständnisse, dass der Tod in unserer Gesellschaft ein Tabuthema ist, sagt Müller: „Tod und Trauer sind omnipräsente Themen, die Menschen sind fasziniert davon. Doch der Tod passiert immer den anderen: in Filmen, in Nachrichten. Durch Corona erfahren die Menschen, dass der Tod auch sie selbst betrifft.“ Aber interessanterweise beschränke sich hierbei die Wahrnehmung nur auf Corona.
Trauer, als unmittelbare Reaktion auf einen Verlust, lässt sich nicht vertagen wie ein Termin beim Friseur, sagt Müller, die nicht Trauerbegleitung, sondern Trauerberatung anbietet. Ihre Arbeit setzt in der Regel erst ein, wenn die organisatorischen Angelegenheiten abgeschlossen sind. Sie hält die fortdauernden Einschränkungen für gefährlich. „Ihre Auswirkungen kommen verzögert bei uns an“, sagt sie. „Die ganze Situation wird aber nicht ohne Folgen bleiben. Denn viele Menschen werden durch die Verordnungen ausgeschlossen.“ Wen lädt man zur Beerdigung ein, wer darf nicht dabei sein? „Auf welcher Grundlage wollen die Betroffenen das entscheiden?“, fragt Müller. „Das ist eine Zumutung.“
An diesem Punkt ist auch der sonst konstruktive Jan Möllers von memento ratlos. „Abwägen, wer darf teilnehmen, wen weise ich ab? Welche Menschen können mich in dieser Situation stützen? Ist mir die Freundin vielleicht näher als die Tante? Dass Menschen solche Entscheidungen treffen müssen, ist wirklich furchtbar: dieses Werten.“ Er und andere Bestatter*innen haben sich Alternativen überlegt: Angehörige, die nicht kommen können, schicken etwas, das mit in den Sarg gelegt wird. Eine Locke, ein persönlicher Gegenstand. Andere veranstalten zur verabredeten Zeit einen Autocorso oder singen. Es sind symbolische Gesten, kleine Bewältigungsstrategien.
„Jetzt, wo die bisherigen Formen nicht gehen, zeigt sich, dass andere Formen wichtig sind“, sagt Jan Möllers in Berlin. Der 42-Jährige hat Kulturanthropologie studiert und schon während seines Studiums in einem Feldforschungsprojekt „angefangen zu bestatten“. Daraus erwuchs ein Thema für eine Masterarbeit, später ein Lebensthema, ein Beruf.
Immer weniger Begräbnisse sind Erdbestattungen, etwa 70 Prozent der Verstorbenen werden eingeäschert. Nur wenige Menschen sterben noch zu Hause. „Die Totenfürsorge mit Zugehörigen außerhalb der Häuslichkeit war in den letzten sechs Wochen nicht möglich“, sagt Cassandra Yousef. Für sie ist das Aufbahren, Waschen und Anziehen des Leichnams „mit das Wichtigste und Schönste“, ein letztes Respekterweisen oder eine Art Liebesdienst am Verstorbenen. Yousef macht dies am liebsten mit den Angehörigen gemeinsam. „Allein das vorzuschlagen, ist äußerst sensibel.“
Das Problem mit den Schutzmaterialien
Memento nutzt gemeinsam mit anderen kleinen Bestatter*innen im Stadtteil Neukölln Räume, die auf dem Hof eines Fuhrunternehmens liegen. Hier verfügen sie über Autos, Garage, drei Kühlräume und eine Abschiedshalle. Das Fuhrunternehmen hat aus Sicherheitsgründen gleich zu Beginn des Lockdowns die Hallen dichtgemacht, seit Kurzem ist nun wieder geöffnet. Memento konnte auf die Abschiedsräume anderer Bestatter ausweichen, aber Schutzkleidung war für die Firma Mangelware, wie für viele in dieser Zeit.
Elke Herrnberger vom Bundesverband Deutscher Bestatter kennt das Problem: „Schutzmaterialien sind nach wie vor ein größerer Knackpunkt. Es fehlt an Body Bags, Desinfektionsmittel, Schutzbrillen, Kitteln.“ Deshalb bleibt die Frage der Systemrelevanz wichtig: Die Länder führen Prioritätenlisten zur Materialversorgung – ob Pflegeheim, Kita usw. – und fragen den Bedarf ab. „In einigen Bundesländern gehören wir zu den systemrelevanten Berufen, aber nicht in allen“, erklärt Herrnberger. Überall aber zählen sie zur Daseinsfürsorge.
Daseinsfürsorge, die eben auch Totenfürsorge ist. „Trauer lässt sich nicht verschieben“, sagt Heidi Müller vom Trauerzentrum Frankfurt. Verschieben lassen sich nur die Trauerfeiern, auch wenn Cassandra Yousef als Patentlösung nicht viel davon hält. „Für viele Trauernde muss irgend etwas sofort stattfinden“, sagt sie. Um einen Abschluss zu finden, wie bei Gudrun Helms mit der gefilmten Urnenbeisetzung ihrer Mutter. Um einen Ort zu haben, an dem sich auch später noch Verbundenheit herstellen lässt. Pfarrer Burkhard Bornemann hält es für „eine gute Idee“, in den drei Kirchhöfen seiner Gemeinde später eine große Gedenkveranstaltung zu machen, wie sie auch im Berliner Dom geplant ist. Für all die Verstorbenen, die in den Wochen der Pandemie improvisierte kleine Trauerfeiern hatten. Die gar nicht so trostlos sein müssen. Aber doppelt hält besser: für die Ewigkeit.
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