Besonderer Fall der Berliner Justiz: Im Affekt

Zwei Menschen hat er erschossen, es kam zum Sensationsprozess. In einem weiteren Prozess wurde Manasse Friedländer vor 90 Jahren freigesprochen.

Historische Aufnahme aus einem Gerichtsprozess

Manasse Friedländer (rechts) 1929 im Gerichtsdsaal Foto: Erich Salomon/Ullstein Bild

Berlin, 1929. In der Passauer Straße 4 betreibt Samuel Friedländer ein Rauchwarengeschäft. Mit seiner Frau und den vier Kindern lebt er im dazugehörigen kleinen Gartenhaus, seitdem sie 1919 vor dem russischen Bürgerkrieg geflohen sind. Der 1910 in Sankt Petersburg geborene zweitälteste Sohn Manasse hat sich zu einem Eigenbrötler mit schwacher Konstitution entwickelt. Halt geben ihm nur seine jüdische Religion und sein Traum von einer Karriere als Kriminalschriftsteller.

Zwecks Milieustudien treibt er sich öfters in zwielichtigen Gegenden herum und übt mit einer illegalen Waffe in einem Kohlenkeller das Schießen. Wie sein älterer Bruder Waldemar ist er ein schlechter Schüler – ihre Zeugnisse der Siemensschule weisen mehrmals die Note Fünf auf –, was Waldemar mit körperlicher Stärke kompensiert. So verprügelt er schon auch mal den Bruder.

Am Abend des 24. Januars kommt es in Anwesenheit des Schulfreunds Tibor Földes zum Streit zwischen Manasse und Waldemar. Einst unzertrennlich – „Wo ich war, war auch er“, wie Manasse vor Gericht aussagen wird –, streiten sie nun oft. Waldemar schubst den Bruder unvermittelt aus dem Zimmer, der erinnert sich „plötzlich“, wie er später aussagen wird, an seine Pistole und erschießt Waldemar. Dann rennt er dem in Panik flüchtenden Tibor hinterher, um ihn mit einem Schuss in den Rücken zu töten. Nach der Bluttat irrt er ziellos durch die Straßen und stellt sich schließlich auf der nächsten Polizeiwache. Minutiös festgehalten wurde der Tathergang in der Prozessakte über den Manasse-Friedländer-Prozess, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin archiviert ist.

Am nächsten Tag wird Friedländer in das Untersuchungsgefängnis von Moabit eingeliefert. Tagelang überschlagen sich die Pressemeldungen. In ihnen ist der Täter ein eiskalter Mörder, obwohl ein Vorsatz erst noch nachgewiesen werden muss: „Auf dem Korridor jagte er ihm eine Kugel in den Kopf“, „Notwehr liegt bei der Tragödie nicht vor“, will die Berliner Börsenzeitung es bereits ganz genau wissen.

Kästner widmet dem Fall ein Gedicht

Am 25. Juni 1929, dem Tag des Prozessbeginns, ist der Publikumsandrang im Gerichtsgebäude so groß, dass die Zugänge gesperrt werden müssen. Aufgrund des jugendlichen Alters von Täter, Opfer und einiger Zeugen bittet der Vorsitzende die Presse um Mäßigung bei der Berichterstattung. Sein Appell verhallt unbeachtet. Seitenweise werden Zeugenaussagen in der Tempo abgedruckt, in deren Auftrag Erich Salomon heimlich im Gerichtssaal fotografiert. Der Mutter und anderen Beteiligten lauert man vor dem Gerichtssaal auf. Erich Kästner wiederum wird die Sensationsgier in seinem Gedicht „Prozeß“ anprangern, in dem es unter anderem heißt: „Mensch, mach Kasse!/ Gehen Sie mir mit Manasse/ Aber schnell; Weiter nichts als Bruderhaß!/ Meine Spannung ist längst flöten/ Bißchen Prügel?/ Und gleich töten?/ Auch etwas.“

Im Gerichtssaal plädiert Friedländers Verteidiger Arthur Brandt auf Freispruch für seinen Mandanten, dem ein erstes psychologisches Gutachten vom 4. April bescheinigt hat, dass er einen „eigenartigen, von pathologischen Zügen nicht freien Charakter“ habe. Manasse Friedländer beteuert, dass er im Affekt auf den Bruder und aus reiner Verzweiflung auf Tibor geschossen habe, und so zieht Brandt in seiner Begründung Paragraf 51 des Reichsstrafgesetzbuches heran, der damals über die Zurechnungsfähigkeit eines Täters entschied: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“

Antisemitische Ressentiments kommen zum Vorschein

Die Bluttat sei eine Reaktion auf die Provokation des Bruders gewesen, eine „abnorm heftige Affektentladung nach einer unmittelbar vorausgegangenen Misshandlung“. Auf der Anklagebank ist Friedländer auffallend ruhig, was Teile der Presse als „kaltblütig“ interpretieren. Antisemitische Ressentiments kommen zum Vorschein: „Jeder Blick, jede Geste, jeder Ton verrät den Typ. Die ganze Figur bekam etwas Lauerndes“, lässt die Berliner Börsenzeitung am 26. Juni 1929 verlauten.

Drei Tage später wird das Urteil gefällt. Manasse Friedländer erhält eine Strafe von sechs Jahren Gefängnis, jedoch ohne Anrechnung der Untersuchungshaft. Sein Verteidiger legt daraufhin Revision ein. In den darauf folgenden Monaten verschlechtert sich der Gesundheitszustand Friedländers rapide, und schließlich muss er mit nur 45 Kilogramm Gewicht in das Moabiter Lazarett eingeliefert werden. Der psychische Gesundheitszustand des nun völlig haftunfähigen Täters mit einer wohl bereits bestehenden Vorerkrankung ist für die Strafvollzugsfähigkeit unzureichend gestärkt gewesen, so sind irreversible Schäden die Folge. Manasse Friedländer wird zur Beobachtung in die Heil- und Pflegeanstalt Herzberge verlegt, wo ihn der Oberarzt Salinger am Ende für „gemeingefährlich geisteskrank“ erklärt. Und auch zur Tatzeit habe er sich schon in einem „krankhaften Zustand der Geistestätigkeit“ befunden.

Wieder mal Schlagzeilen

Am 20. Juni 1930 zieht Brandt den Antrag auf Revision zurück, sodass die Wiederaufnahme des Verfahrens mit der gleichzeitigen Freisprechung des Verurteilten beim Oberstaatsanwalt beantragt werden kann. Und tatsächlich: Am 7. Februar 1931 wird Manasse Friedländer in Abwesenheit von der Strafkammer des Landgerichts III freigesprochen. Wieder sorgt der Fall für Schlagzeilen, so ist er für völkische Blätter wie die Deutsche Zeitung eine eindeutige „Strafgefangenenverwöhnung“.

In den nächsten Jahren wird es still um Manasse Friedländer. Der Zustand des „immer ruhigen“ Patienten bessert sich minimal. Obwohl in seinem Entlassungsvermerk der Klinik vom 3. Februar 1937 keine Rede von „geheilt“ ist, wird er über Ostpreußen nach Lettland, der Heimat seines Vaters, gebracht. Wer dies angeordnet hat, geht weder aus dem Vermerk noch aus anderen Quellen hervor.

Am 22. August 1938 macht Amtsrichter Paterna in der Prozessakte noch diesen menschenverachtenden Eintrag über das „psychoanalytische Wunder“ Manasse Friedländer, bevor sich der Deckel der Akte endgültig schließt: „Immerhin ein Verdienst 2 Juden erschossen zu haben!“

Hinweise auf das weitere Schicksal von Manasse Friedländer gibt es derzeit nicht. Waldemar Friedländer und Tibor Földes ruhen nebeneinander auf dem Jüdischen Friedhof von Weißensee. Lange muss man suchen, um ihren völlig verwilderten Ruheplatz, der stets im Schatten liegt, zu finden.

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