Beschuldigungen gegen Indie-Musiker: „Er war 31, ich gerade 16“
Von wegen Feel-Good-Sound: Zahlreiche Frauen werfen der argentinischen Indie-Band „Onda Vaga“ im Netz sexuelle Übergriffe vor.
Ende September im Berliner Festsaal Kreuzberg. Ein Konzert der argentinischen Indie-Band Onda Vaga. Die Stimmung ist ausgelassen, die fünf Jungs kiffen auf der Bühne, das Publikum singt mit. Gitarrist und Sänger Tomás Gaggero schwankt teilweise bedenklich an seinem Mikrofon. Er liebe Berlin, grölt er immer wieder. Er trägt eine rote Adidas-Jogginghose. Betont lässig.
Im Publikum: Latinxs und Menschen, die so aussehen, als hätten sie mindestens einen Backpacking-Urlaub in Lateinamerika hinter sich. Onda Vaga hat auch in Deutschland eine feste Fangemeinde. Anfangs spielte die Band in Berlin noch auf der Straße, später in linken Clubs wie dem Kreuzberger SO 36. Der fröhliche Indie-Sound der Band, die wuscheligen Haare der Mitglieder – alles ein bisschen hippiemäßig, ein bisschen auf heile Welt getrimmt.
Kaum eine Woche später platzt die Feel-Good-Blase von Onda Vaga: Am 3.Oktober launcht die Webseite „Denuncias Onda Vaga“. Dort berichten Frauen von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen der Bandmitglieder. Anfangs sind es zehn Berichte, keine 24 Stunden später zwanzig. Und nach fünf Tagen 42.
Sänger Tomás habe sie 2013 nach einem Konzert ungefragt mit der Zunge über ihr Gesicht lecken wollen, schreibt eine Frau auf der Webseite. Sie habe sich gewehrt, daraufhin sei er wütend geworden. „Hau ab, du Scheiß-Schlampe, du würdest es lieben, mit mir zu schlafen. Weißt du eigentlich, dass ich alle Texte schreibe?“, soll er gesagt haben. Es ist nur ein Vorwurf von vielen, die nun auf der Homepage stehen. Die Betroffenen beschreiben anonym, aber äußerst detailreich, welche Übergriffe die fünf Bandmitglieder sich geleistet haben – von anzüglichen Facebook-Nachrichten über ungefragte Penisshow bis hin zu Psychoterror und Stalking. Bereits am ersten Tag nach der Veröffentlichung schlug das Blog große Wellen in den sozialen Netzwerken und argentinischen Medien.
Frauenrechte, klar doch
Nur wenige Stunden vor dem Konzert in Berlin, Ende September, ein Interview mit zwei Bandmitgliedern, Germán Cohen und Marcelo Blanco. Zu diesem Zeitpunkt sind die Vergewaltigungsvorwürfe noch nicht veröffentlicht. Stattdessen geht es um ihr neues Album, ihr Standing als nun international erfolgreiche Indieband, um die Wirtschaftskrise in Argentinien. Insgesamt nichts Brisantes. Am Ende die Frage: haben die beiden eigentlich auch ein pañuelo – ein grünes Halstuch, das seit Monaten in Argentinien omnipräsent ist, als Symbol der Bewegung für die Legalisierung von Abtreibung? Er habe keins, aber er trage es „im Herzen“, antwortet Germán Cohen und lacht. Marcelo Blanco nickt zustimmend. Frauenrechte, klar doch, selbstverständlich in ihren linksalternativen Kreisen.
„Er war 31, ich gerade 16“, schreibt eine Frau in dem Blog über eben jenen Marcelo Blanco. „Er penetrierte mich ohne zu fragen, ohne zu zögern, ohne nachzudenken. Morgens um fünf zahlte er mein Taxi, damit ich rechtzeitig zur Schule kam. So ging das anderthalb Jahre lang.“ Eine andere Frau schreibt: „Über fast 2 Jahre lief etwas zwischen uns. Ich war 18, Marcelo 31. In dieser gesamten Zeit nutzte er meine emotionale Unreife und meine Unsicherheit beim Thema Sex aus.“
„Missbrauch gibt es nicht. Wenn Gott derjenige war, der wollte, dass es passiert…Gib mir nicht die Schuld, ich habe dir nur beigebracht auf Zehenspitzen zu küssen…Höre auf niemanden. Ich bin gar nicht so grausam.“ So beginnt ein Song von Onda Vaga. Lolita heisst er. Sie spielen ihn mittlerweile nicht mehr live, wegen „legalen Problemchen“ wie die Band verniedlichend mitteilt. Auch die meisten anderen Songs handeln davon, dass sie doch nur liebe Jungs seien, die das Leben feiern und die sich ab und an in eine schöne Frau verguckten.
Mehrere Frauen berichten: die „Onda Vaga“-Bandmitglieder sollen sich gegenseitig gedeckt haben. Das Machogehabe habe innerhalb der Band nie zu einer kritischen Auseinandersetzung oder gar einem Zerwürfnis geführt. Stattdessen sollen alle fünf ihre Berühmtheit dazu genutzt haben, um Grenzen zu überschreiten. Dauerwitzelnd, selbstverliebt, ein richtiger Jungsclub: auch beim Konzert in Berlin stehen nur Männer auf der Bühne, vom Techniker bis zum Background-Gitarristen.
Schon lange vor #MeToo
Die Vorwürfen gegen Onda Vaga sind nicht die ersten Fälle sexualisierter Gewalt in der argentinischen Musikbranche, die öffentlich werden. Die Strategie der sogenannten „Escraches“, des öffentlichen Anklagens, hat sich in den letzten Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas etabliert. Im Netz wird sie praktiziert, aber auch zum Beispiel in Form von Graffiti an den Hauswänden korrupter Politiker*innen oder Sexualstraftäter*innen. Bereits 1995 machte die Organisation HIJOS so auf die unaufgeklärten Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur aufmerksam. Lange vor #MeToo galt für Feminist*innen in Argentinien die Devise: „Wenn es Gewalt gibt, gibt es Escraches. Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escraches.“
Zwei Jahre ist es her, da begann das Kollektiv „Ya no nos callamos más“ („Wir schweigen nicht mehr“) auf einer Webseite Vorwürfe gegen argentinische Musiker zu veröffentlichen. Die Idee dazu war auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Schluss mit den Vergewaltigungen im Rock und überall“ in Buenos Aires entstanden. In fast allen Beiträgen finden sich neben den Klarnamen auch Fotos der Täter. Es handelt sich um Größen der argentinischen Alternativ-Musikszene, wie etwa den Sänger von „El Otro Yo“, Christian Aldana, gegen den seit Mai 2018 auch ein Prozess wegen sexuellem Missbrauch von Minderjährigen läuft, den ehemaligen Gitarristen von „La Yegros“, David Martinez oder Guillermo Ruiz Diaz, den Gitarristen der Band „El mató a un policia moterizado“.
Vornehmlich männliche Stimmen haben den Betreiberinnen der Webseite vorgeworfen, dass sie Rufmord von Personen des öffentlichen Lebens betreiben – unter dem Deckmantel der Anonymität, unter dem die Vorwürfe erhoben werden. Diese Anonymität sei wichtig, um die Frauen zu schützen, schreiben die Aktivistinnen von „Ya no nos callamos más“ auf der Seite. Und um einem „System der Täter-Opfer-Umkehrung entgegenzuwirken, in dem meist viel mehr Zweifel und Fragen an die Opfer laut werden als gegen die Täter“.
„Ciao Machistas!“
Dass die Vorwürfe gegen die Band Onda Vaga gerade jetzt publik werden, obwohl die Vorfälle teilweise über 10 Jahre zurückliegen, sagt viel über das veränderte Standing der Frauen*bewegungen in der argentinischen Gesellschaft aus. Das bereits erwähnte pañuelo, das grüne Halstuch als Symbol der feministischen Bewegung für ein Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung, prägte in den vergangenen Monaten das Bild der Straßen, Plätze und Schulen von Buenos Aires. Der argentinische Senat lehnte ein Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im August zwar knapp ab, trotzdem sind feministische Themen weiter und stärker als je zuvor auf der politischen Tagesordnung zu finden. Die feministische Bewegung Argentiniens gilt mittlerweile als größte oppositionelle Kraft gegen die neoliberale Regierung. Gesellschaftliche Verhältnisse verändern sich und Feminismus ist in diesen Tagen in Argentinien kein Schimpfwort mehr.
Stimmen, die die Bandmitglieder von Onda Vaga vehement verteidigen und die den Vorwürfen sichtbar widersprechen, werden kaum laut, seit die Vorwürfe laut geworden sind – weder in den sozialen Medien noch in den traditionellen. Stattdessen wird die Forderung immer lauter, Onda Vaga solle doch einfach ganz aufhören, aufzutreten. Hunderte liken entsprechende Posts. Auch viele Männer posten Kommentare wie „Ciao Machistas!“ auf Onda Vagas Facebook-Seite. Die letzten beiden Konzerte ihrer Europatournee Anfang Oktober in Brüssel und Madrid haben die Veranstaltenden bereits abgesagt – im Fall des Brüsseler Kulturzentrums La Tentation ausdrücklich, weil bei einem Konzert von Onda Vaga nicht mehr von einem safe space für Frauen ausgegangen werden könne.
Und wie Onda Vaga selbst auf die Vorwürfe reagiert? Weder die Band als Ganzes noch eines ihrer Mitglieder haben sich bislang öffentlich geäußert. Eine erneute Interview-Anfrage der taz wurde abgelehnt.
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