Besatzungsmuseum in Berlin: Selbstzufrieden, den Blick verengt
Das Deutsche Historische Museum macht Vorschläge für das geplante Besatzungsmuseum. Es fehlen ganze Ethnien und der Blick auf die stillen Mittäter.
Die deutsche Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist in der Fläche präsent – von Stolpersteinen über ehemalige Lager bis hin zu den zentralen Berliner Gedenkstätten. Diese Sichtbarkeit im Alltag ist eine ihrer größten Stärken. Leerstellen gibt es trotzdem, vor allem bei den Millionen nichtdeutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs. Nach langem Hin und Her beschloss der Bundestag deshalb 2020, einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ sowie ein Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ zu errichten, die beide in der Hauptstadt entstehen sollen. Sie werden innerhalb der Gedenkstättenkonzeption des Bundes realisiert, die als übergreifendes Konzept zu verstehen ist. Für Ersteres übernahm das Auswärtige Amt die Planung, mit Letzterem wurde überraschend das Deutsche Historische Museum (DHM) betraut, wohl weil die Große Koalition die Unabhängigkeit der Berliner Gedenkstätten fürchtete.
Der Bundestag hat die nun vorliegenden Entwürfe zunächst an seine Ausschüsse überwiesen, da mehrere Fraktionen konzeptionelle Fragen anmeldeten. Und das ist auch nachvollziehbar. Denn wo das Auswärtige Amt sich für Polen vornehm-diplomatisch zurückhält und lediglich eine gute Seite zu den möglichen Inhalten präsentiert, macht das DHM zum Besatzungsmuseum Vorschläge, die bei geschätzten Investitionen von 134 Millionen Euro und einem Bau mit 15.000 Quadratmeter Fläche – gut ein Viertel davon als Ausstellungsfläche – in jeder Hinsicht umfangreich sind.
Die schiere Dimension ist zu begrüßen, denn sie zeigt schon symbolisch, dass Gedenken ernst zu nehmen ist. Auch die historische Komplexität mit zahlreichen länderspezifischen Einzelfällen und ungezählten Toten erfordert eine angemessene Größe, um Lernen aus und Auseinandersetzung mit der Geschichte zu ermöglichen: Besatzung war die notwendige Vorbedingung für die allermeisten Morde der Jahre 1939 bis 1945 – schließlich mussten die Opfer zunächst einmal in den deutschen Machtbereich gelangen.
Jenseits der technischen und finanziellen Aspekte hat das DHM bei den Inhalten allerdings der Mut verlassen. Nach einer allgemeinen Einführung in die Besatzung benennt es neun Schwerpunkte. Doch fünf davon werden bereits durch eigene Gedenkstätten und entsprechende Bildungsangebote in Berlin abgedeckt: Für Zwangsarbeit gibt es das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide; die Ermordung von Patienten ist Gegenstand des von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden betreuten „Euthanasie“-Informationsorts in der Tiergartenstraße; dem Holocaust sind neben dieser Stiftung, die auch zum Gedenkort für die ermordeten Sinti und Roma entsprechende Bildungsangebote macht, außerdem die Topographie des Terrors und das Haus der Wannsee-Konferenz gewidmet, wo genauso wie in Sachsenhausen die verschiedensten Lagertypen thematisiert werden.
Wettstreit um Erinnerung, Deutung und Besucher
So läuft das Konzept auf eine Konkurrenzveranstaltung hinaus, die gedenkpolitisch nicht erwünscht sein kann: Das DHM will um Erinnerung, Deutungen und Besucher wetteifern, anstatt eine Ergänzung und Erweiterung der Gedenkstättenlandschaft zu bieten. Die auf gesellschaftliche Initiativen zurückgehenden – und von der Zivilgesellschaft wesentlich getragenen – Gedenkstätten werden vom nationalen deutschen Geschichtsmuseum marginalisiert.
Selbstverständlich muss ein Besatzungsmuseum beispielsweise Zwangsarbeit thematisieren und auch die Opfer der Shoah müssen ausführlich benannt werden. Darüber hinaus aber erstaunen die Lücken, die für den Bundestag die Ausgangsüberlegung darstellten. Das ist zuvorderst die sonstige, gewissermaßen normale Zivilbevölkerung des besetzten Europas: die an den verschiedensten Ethnien verübte Gewalt etwa in Polen, Griechenland, Serbien, Belarus, Russland, Ukraine usw., die mit Millionen von Toten in Summe die meisten Opfer zu beklagen hatten.
Für diese gigantischen Opfer gab es verschiedenste Todesursachen wie beispielsweise Rassenkrieg, Hunger und Seuchen, „Bandenkampf“ – die unterschiedslose Auslöschung von Dörfern zum angeblichen Zweck einer Widerstandsbekämpfung –, Deportationen, „Germanisierung“ oder die Morde an intellektuellen, politischen und religiösen Eliten. Doch diese hierzulande kaum erinnerten und auch nicht mit eigenen Gedenkstätten bedachten Taten werden im neuen Museum höchstens gestreift. Das gilt ebenso für kriegsgefangene Soldaten – allein über 3 Millionen Rotarmisten starben in deutscher Gefangenschaft –, die vor allem in der allgemeinen Einführung benannt werden. Völlig ausgeblendet ist zudem, dass vor der Besatzung die deutschen Angriffs- und Vernichtungskriege standen, die hier aber nicht vorkommen. Allerdings trägt das geplante Museum das Wort „Krieg“ in seinem Namen.
Auch die Frage nach den deutschen Besatzern und ihren Handlungen zwischen aktiver Täterschaft, Profit, passiver Zustimmung und passiver wie aktiver Ablehnung wird vom DHM nicht gestellt. Gerade das aber böte die Möglichkeit, nach Handlungsspielräumen von Millionen von Menschen zu fragen: etwa Eisenbahnern und Postlern, den Millionen von Soldaten der Wehrmacht und auch Zivilisten und Zivilistinnen – Sekretärinnen der SS, Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen bei der „Germanisierung“. Sie alle spielten tragende und unverzichtbare Rollen bei der Okkupation, die als gesamtgesellschaftliches Projekt zu verstehen ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser Täterschaft erfolgt bislang viel zu wenig und ist nur zum kleinsten Teil Aufgabe der existierenden Gedenkstätten – aber Pflicht und Kür eines Besatzungsmuseums.
Die Unbequemlichkeit einer Gedenkstätte, die in Deutschland relevante Fragen aufwirft
Wichtig wäre außerdem, die Alltags- und Sozialgeschichte der Besetzten sowie deren genderabhängige Erfahrungen – nicht zuletzt sexuelle Gewalt, der eine wichtige Rolle zukam – zu thematisieren. Aus der Okkupation ergaben sich außerdem neue gesellschaftliche Stratifikationen, innergesellschaftliche Konflikte und interethnische Gewalt der besetzten Gesellschaften. Hierher gehören auch Fragen von Kollaboration, und es ist durchaus bezeichnend, dass dieses Wort im Konzept nicht auftaucht und der Sachverhalt stattdessen mit „Angebote und Zwang zur Beteiligung“ verschwiemelt wird. Wenn man das jedoch zusammen mit Widerstand darstellt und dann das Verhalten der Deutschen danebenlegt, lassen sich ganz neue Perspektiven für die historisch-politische Bildung eröffnen, die weit über die veraltete Trias von Tätern, Opfern und Zuschauern hinausweisen.
Es sind derartige Leerstellen, die deutlich zeigen, dass das DHM die vielschichtige und differenzierte internationale Forschungslandschaft zum besetzten Europa im Zweiten Weltkrieg nur selektiv zur Kenntnis genommen hat. Die Idee, ein eigenes Forschungsinstitut und ein Archiv innerhalb des Dokumentationszentrums zu schaffen, ist weiterer Ausdruck davon. Selbstverständlich muss es dort eine Bibliothek geben, und eine wissenschaftliche Abteilung muss entsprechende Expertise und Kontakte pflegen. Aber ein eigenes Forschungsprogramm mit ausländischen Stipendiaten ist genauso wenig Kernkompetenz wie umfassende archivalische Sammlungen oder Video-Testimonies – das gibt es in Berlin auch bereits und muss nicht dupliziert werden. Aber das DHM ist beseelt vom Wettbewerbsgedanken und möchte sogar ein „Forum Europäische Erinnerung“ etablieren, das anscheinend in Konkurrenz zum bereits bestehenden Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität treten soll.
Offen bleibt bei all dem außerdem das Verhältnis zur europäischen Museums- und Gedenkstättenlandschaft, wo in jedem Land ein oder mehrere offensichtliche Partner eines deutschen Besatzungsmuseums existieren: Für internationale Wirkung und Akzeptanz wären gerade nichtdeutsche Museen und auch nationale Perspektiven einzubeziehen – was natürlich nicht bedeutet, sich diese immer zu eigen zu machen. Partnerschaft auf Augenhöhe heißt indes, ungeliebte Sichtweisen zumindest verstehen zu wollen. Natürlich ist das eine große Herausforderung, aber nur dann kann tatsächlich „das besetzte Europa in seiner ganzen geographischen Breite und historischen Unterschiedlichkeit“ erfasst werden, wie das der Bundestag wollte.
Stattdessen entwirft das DHM ein Museum über die bereits existierende heutige deutsche Erinnerung an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, und eben nicht ein internationales Dokumentationszentrum zur Besatzung, das von der Ereignisgeschichte ausgeht. Man fühlt sich an den im Ausland so oft erhobenen Vorwurf erinnert, die Deutschen würden sich nur mit sich selbst und dem Holocaust beschäftigen. Doch museale Selbstzufriedenheit und Selbstbeschau brauchen wir gerade nicht, sondern die Unbequemlichkeit einer Gedenkstätte, die in Deutschland gesellschaftlich relevante Fragen aufwirft und diskutiert – ohne dabei den europäischen Partnern Lektionen darüber zu erteilen, wie sie ihre Geschichte sehen sollen. Man darf gespannt sein, ob sich der Bundestag dieser Intentionen noch besinnt oder am Ende doch nur durchwinkt, was ihm vorgesetzt wurde.
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