Berliner Wochenkommentar II: Blick nach unten, Blick nach rechts
In Neukölln werden vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht 16 Stolpersteine geklaut, bei vier weiteren scheiterte der Diebstahlverlust. Der Staatsschutz ermittelt.
Unmittelbar vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht am Donnerstag verschwinden in Neukölln mindestens 16 Stolpersteine; in der Nacht zu Freitag ein weiterer. Jene kleinen Betonquader mit Messingoberseite also, die vor der letzten frei gewählten Wohnadresse an Menschen erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt und meist ermordet wurden. Einen derart massiven und konzentrierten Diebstahl der Gedenksteine gab es bislang in ganz Deutschland nicht. Auch wenn die Täter unbekannt sind, liegt es nahe, dass es sich um Neonazis handelt. Der Staatsschutz ermittelt.
Wahrscheinlich wird man nie aufklären können, wer die Täter sind. In den vergangenen Monaten und Jahren haben Rechte immer wieder in Neukölln zugeschlagen: Autos von Linken wurden angezündet, rechte Parolen geschmiert, linke Läden mit Brandsätzen attackiert, Scheiben eingeworfen. Es gab nie Bekennerschreiben. Der Polizei gelang es bis heute nicht, auch nur einen Verdächtigen festzunehmen. So etabliert sich in dem eigentlich entweder als Hipster-, Getto- oder Kleinbürgerkiez bezeichneten Bezirk eine konstante rechte Bedrohung.
Die Reaktionen nach dem Diebstahl der Stolpersteine machen Hoffnung: Viele Menschen hätten sich gemeldet und Hilfe angeboten, die Spendenbereitschaft sei groß, sagt die Leiterin der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin, Silvija Kavčič.
Doch das reicht nicht, natürlich nicht. Im Jahr eins nach dem Einzug der AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus und unmittelbar nach dem Einzug der AfD in den Bundestag muss man sich dieser rechten Präsenz in vielen Bereichen des Alltags viel stärker als bisher bewusst werden. Man muss den Blick öfter als bisher nach unten richten auf die Stolpersteine. Und die Gefahren erkennen, die mit ihrem Verschwinden auftauchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht