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Berliner TheatertreffenDie Kopie und ihr Mehrwert

An den Kammerspielen München ließ Anta Helena Recke „Mittelreich“ in neuer Besetzung spielen, diesmal von Schwarzen Deutschen.

Protest gegen die weiße Norm: Szene aus Anta Helena Reckes „Mittelreich“-Inszenierungskopie Foto: Judith Buss

Geschichten mehrmals zu sehen, kann sich lohnen. „Mittelreich“, der Roman von Josef Bierbichler über die Familiengeschichte des bayerischen Seewirts, ist so ein Fall. Zuletzt hat Bierbichler selbst den Roman verfilmt, „Zwei Herren im Anzug“. Beim Sehen des Films erinnerte ich mich an die Theaterinszenierung „Mittelreich“ von Anna-Sophie Mahler.

Bei jeder Neuerzählung begreift man etwas mehr, wie das Verschweigen und Vergessen eine Familie prägt. Wie das Abwürgen der Emotionen in Feindlichkeit umschlägt gegen alles, was da neu auf einen zukommt – Flüchtlinge beispielsweise. In der Theaterinszenierung, die vor zwei Jahren von den Münchner Kammerspielen zum Theatertreffen eingeladen war, ist dies alles mit trauriger Musik gerahmt, Liedern von Brahms, die auf den Trost im Jenseits setzen. Diese Musik zu haben ist der einzige Ausgleich für das Versagen der Sprache.

Diese Inszenierung war jetzt noch einmal zu sehen, aber als eine bewusst gesetzte Kopie, von der afrodeutschen Regisseurin Anta Helena Recke. Das Bühnenbild ist geblieben, die musikalische Grundierung ist geblieben, der Text, die Spannung. Aber die Schauspieler und die Musiker im Orchester sind jetzt Schwarze Deutsche.

Keine Amateure, keine Flüchtlinge, keine Aktivisten, sondern in Deutschland aufgewachsene und an renommierten Schulen ausgebildete Schauspieler, die man teilweise aus Kino- und TV-Filmen wiedererkennt, wie Jerry Hoffmann oder Ernest Allan Hausmann. Warum das überhaupt betonen? Nun, darin liegt das Eingeständnis, etwas anderes vermutet zu haben. Mehr Manifest, weniger Kopie.

Ein Protest gegen die weiße Norm, im Stadttheater, im Alltag, klammert die Inszenierung. Wie das fortarbeitet während des Sehens, das war, den Pausengesprächen nach, sehr unterschiedlich. Die Präsenz der Aufmerksamkeit fordernden Geschichte, die mit großen Zeitsprüngen erzählt wird, rückte für mich wieder in den Vordergrund. Auch die Ambivalenz zwischen Erzählweise und Erzähltem.

Der sengalesische Großvater und die anderen Großeltern

Wie zum Beispiel der Countertenor Yosemeh Adjei als Fräulein Zwittau, eine Einquartierte im Gasthof des Seewirts nach dem Krieg, von ihrer Vergewaltigung durch russische Soldaten erzählt und sein Spiel dabei den Riss durch das Fräulein, ihr Austreten aus der eigenen Person in jedem vorsichtigen Wort spüren lässt.

„Mittelreich“ ist eine sehr bayerische Geschichte, auch deshalb hat Anta Helena ­Recke, selbst in einem bayerischen Dorf aufgewachsen, diesen Stoff gewählt. Sie schrieb dazu in einem Beitrag für Theater heute, dass auch sie beschäftigt, was ihre Großeltern im „Dritten Reich“ gemacht haben, aber wie sie auch an den senegalesischen Großvater denkt, der auf der Seite der Franzosen gekämpft hat. Und dessen Geschichte eben fehlt in dem, was universell zu sein beansprucht.

Nicht alles, was für sie durch die neue Besetzung als möglicher Bezugsrahmen hinzukommt, ist auch für jeden sichtbar; aber zumindest die Ahnung davon, dass da mehr ist, als man weiß. Der Stoff hat einen neuen Resonanzboden bekommen, in den hineinzuhören aber nicht geübt ist. Natürlich ist die Geste der Kopie in Schwarzer deutscher Besetzung eine Kritik an den unbedachten Ausschlussmechanismen die System Thea­ter in Deutschland, aber eine Kritik, die das System wertschätzt und auch deshalb Zugehörigkeit einfordert. Eine höfliche Form von Radikalität.

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1 Kommentar

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  • Dass es auch „eine höfliche Form von Radikalität“ geben könnte, scheinen sich die meisten Menschen nicht einmal ansatzweise vorstellen zu können. Auch viele Theaterleute nicht. Kritik schließt für die aller meisten unter uns eine Wertschätzung des Kritisierten offenbar vollständig aus.

     

    Womöglich hat auch das mit dem Gefühl zu tun, man würde seine Chancen minimieren, wenn man seine Zugehörigkeit zu Menschen, Dingen oder Systemen erklärt, die nicht perfekt sind. Und die (Höchst-)Strafe für den ist, der seine Chancen nicht erbarmungslos maximiert, muss ziemlich furchterregend sein in der Vorstellung der unhöflichen Radikalen.

     

    Ich frage mich nur, wozu das ganze Rattenrennen um den Fortschritt gut sein soll, wenn man sich nachher als Sieger der Show nicht einmal eine „höfliche Form von Radikalität“ leisten kann. Unserer Welt ist nirgendwo und niemals perfekt. Genau genommen dürfen Möchtegern-Sieger also nirgendwo dazu gehören wollen. Welche Strafe könnte noch furchterregender sein?

     

    Es heißt, Sieger wären verdammt einsam auf dem Gipfel ihres Triumphs. Vielleicht reich, vielleicht berühmt, vielleicht auch mächtig, aber eben doch ziemlich verloren. Ich glaube, ich bin lieber höflich radikal. Auch wenn ich dann vielleicht niemals (end-)siegen werde.