Berliner Szenen: Ich bin der Greifinator
Der Himmel ist grau, die Wolken sind grau, die ganze Luft ist grau. Es knistert in den Lautsprechern. Eine Fahrt im Regionalexpress.
E in blühendes Rapsfeld traurig aussehen zu lassen, dazu gehört einiges. Aber dieser Mai schafft das. Die Rapsfelder, die an meinem Zugfenster vorbeifahren, sind strahlend gelb und scheiße-trist zugleich.
Der Himmel ist grau, die Wolken sind grau, die ganze Luft ist grau. Es knistert in den Lautsprechern. „Wir begrüßen die in Hennigsdorf zugestiegenen Fahrgäste im Regionalexpress nach Wittenberge. Unser Zug hat momentan siebzehn Minuten Verspätung.“
Siebzehn Minuten, lächerlich. Der ganze Sommer hat Verspätung. Entweder der Februar geht nicht vorbei, oder der November kam diesmal früher, aber irgendwas stimmt nicht. Draußen ist Nebel. Nebel, Raps, Nebel, Raps.
Der Zug ist fast leer, nur schräg gegenüber sitzt ein zappeliges Kind mit seiner Mutter. „Ich bin der Greifinator!“, ruft das Kind. Es hat einen Lolli mit einem Plastikdings dran wie eine Zange. „Ich kann alles greifen“, sagt das Kind.
„Du sollst den Lolli jetzt lutschen“, sagt die Mutter. „Ja“, sagt das Kind und guckt aus dem Fenster. „Jetzt lutschen“, wiederholt die Mutter. „Ja“, sagt das Kind, und „ich bin der Greifinator!“ „Heute Abend hast du keine Zeit mehr zum Lutschen“, sagt die Mutter, „dann musst du Zähne putzen und ab ins Bett.“
„Das alles soll ich jetzt lutschen?“, fragt das Kind. „Heute Abend geht es nicht mehr“, sagt die Mutter, „da musst du in die Badewanne.“ - „Muss ich lutschen?“, fragt das Kind. „Jetzt in der Bahn hast du Zeit dafür“, sagt die Mutter.
„Aber es ist noch hell“, sagt das Kind, „ich muss noch nicht schlafen.“ Es kniet sich auf den Sitz und guckt wieder raus. „Lutsch jetzt“, sagt die Mutter wieder, aber schon leiser.
Draußen wieder Raps. „Guck mal“, ruft das Kind, „alles gelb!“ Raps, Nebel, Raps, Nebel. Die Mutter holt eine Zeitschrift aus der Tasche. „Alles gelb“, sagt das Kind noch mal, als es auf seinen Sitz zurücksinkt, und „ich bin der Greifinator.“
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