Berliner Opfer von Femiziden: Wenn der Staat versagt

In Berlin wurden binnen vier Wochen vier Frauen Opfer von Femiziden. Beim Kampf gegen patriarchale Gewalt zögert der Staat aus Sorgen um Datenschutz.

Hunderte Menschen protestieren mit eine Demonstration unter dem Motto „Stoppt Femizide – Man tötet nicht aus Liebe“

Hunderte Menschen protestieren mit eine Demonstration unter dem Motto „Stoppt Femizide – Man tötet nicht aus Liebe“ Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | 28. Mai in Wilmersdorf, 28. Mai in Charlottenburg, 3. Juni in Köpenick, 30. Juni in Tempelhof: ermordet von ihren (Ex)-Partnern in ihren Wohnungen und auf offener Straße. Was sie begangen haben? Sie waren Frauen – und haben sich nicht den patriarchalen Besitzansprüchen der Männer unterworfen. Femizide, also Morde an Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sind der Höhepunkt frauenfeindlicher Gewalt.

Im vergangenen Jahr gab es laut Lagebild „Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes (BKA) deutschlandweit 155 Femizide. Somit wird im Schnitt nicht mehr jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem (Ex)-Partner ermordet, sondern fast jeden zweiten. „Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei? Wo die Empörung?“, fragt Lilly S. von der Initiative „Femizide stoppen!“. In diesem Jahr hat die Gruppe bereits 51 Femizide gezählt, vermutet jedoch eine hohe Dunkelziffer.

„Die Statistiken des BKA sind nicht umfassend genug“, kritisiert Lilly S. Tatsächlich erfasst die Kategorie „Partnerschaftsgewalt“ des BKA nur Morde an (Ex)-Partner*innen. Femizide können allerdings auch außerhalb von bestehenden und ehemaligen Partnerschaften stattfinden: etwa wenn Söhne ihre Mütter töten. Oder sogenannte Ehrenmorde, bei denen Familienmitglieder eine Frau töten, die in ihren Augen die „Familienehre“ beschädigt.

Neben der lückenhaften Erfassung trage auch die mediale Berichterstattung oft zur Verharmlosung von Femiziden bei, betont Lilly S.: Durch Bezeichnungen wie „Beziehungstat“, „Eifersuchts-“ oder „Beziehungsdrama“ würden Morde „unkonkret, romantisiert und verklärt dargestellt“. Zudem werde in den Medien oft Rassismus geschürt, sagt S. So wird suggeriert, dass patriarchale Gewalt herkunftsspezifisch sei. Dabei ist sie ein übergreifendes Problem, unabhängig von Herkunft, Klasse oder Religion, das in patriarchalen Gesellschaften tief verankert ist.

Oft keine Anzeige erstattet

Lilly S. weist darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen viele Erscheinungsformen hat: „Das beginnt bei sexistischen Witzen im Alltag, geht über Belästigung bis hin zu häuslicher Gewalt und Mord.“ Viele Frauen erstatteten allerdings aus Scham oder Angst keine Anzeige, zudem nehme die Polizei Gewaltbetroffene oft nicht ernst, kritisiert sie: „Sie werden entmutigt, Anzeige zu erstatten, mit der Begründung, dass es ohnehin nicht zu einer Anklage oder Verurteilung führe.“

Lilly S., Initiative „Femizide stoppen!“

„Frauen werden entmutigt, Anzeige zu erstatten“

Dabei sei es wichtig, diese Fälle zu dokumentieren sowohl für die Statistik als auch für die Historie bei möglichen späteren Gerichtsverfahren gegen den Täter oder auch für andere Gerichtsverfahren, in denen der Täter vor Gericht steht.

Bei der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“ (BIG) ist das Problem bekannt: „Häusliche Gewalt beginnt oftmals als psychische Gewalt und eskaliert dann in körperliche Gewalt“, sagt Nua Ursprung, Referentin der Beratungsstelle. Bereits bei ersten Anzeichen müssten Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. Verbale sexuelle Belästigungen sind in Deutschland jedoch nicht strafbar. Geahndet werden können sie höchstens als Beleidigung. Eine Vielzahl an Sprüchen, bei denen sich Frauen bedroht oder degradiert fühlen, fallen nicht darunter.

Aufgrund der staatlichen Strukturen, die Gewaltbetroffene daran hindern, sich Hilfe zu holen und frauenfeindliche und feminizidale Gewalt ermöglichen, wird daher auch von „Feminizid“ gesprochen, das in seiner Definition die staatliche Verantwortung und strukturelle Ebene mit einschließt.

Schutzorte überlastet

Dazu gehören auch ausgelastete Schutzorte für gewaltbetroffene Frauen. So mussten im Jahr 2022 in Berlin rund 2.000 von 3.400 Anruferinnen abgewiesen werden, die sich beim Hilfstelefon der BIG meldeten und um Vermittlung an ein Frauenschutzhaus baten. Die Auslastung der Frauenhäuser lag 2022 bei 83 Prozent. Die restlichen Plätze sind laut Senatsverwaltung für Gleichstellung und Antidiskriminierung reserviert für Kinder.

„Laut Schlüssel der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die die Bundesregierung 2017 ratifiziert hat, müsste Berlin 963 Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung stellen. Es gibt jedoch nur 462, also knapp die Hälfte“, sagt Nua Ursprung. Wenn es Plätze gebe, seien diese oftmals nicht barrierefrei oder nähmen keine Frauen mit Söhnen auf, die älter als 12 Jahre sind. Mit Schutzwohnungen und Clearingstellen kommt Berlin auf 521 Schutzplätze für Frauen – immer noch viel zu wenige.

Ursprung fordert daher die Realisierung des Landesaktionsplans, den der Senat im Oktober vergangenen Jahres verabschiedete, um die Istanbul-Konvention umzusetzen. Eine Maßnahme ist der Ausbau der Schutzplätze; diese habe „hohe Priorität“, sagt ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gleichstellung und Antidiskriminierung der taz. 2024 seien bereits die Schutzwohnungen der Stadtmissionen um 14 Plätze erweitert worden, der Aufbau weiterer Plätze werde mit „Hochdruck“ vorangetrieben.

Der Senat hatte bereits 2022 ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Verhinderung von Femiziden beschlossen. Im Doppelhaushalt 2023/24 hatte es zudem 24 Millionen Euro und damit 9 Millionen Euro mehr für den Bereich Antidiskriminierung zugesagt. Passiert ist bislang jedoch wenig: „Seit einem halben Jahr liegt das Geld für mehr Gewaltschutz brach“, sagt die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Bahar Haghanipour, der taz. „Schwarz-Rot muss das selbstgemachte Haushaltschaos sofort beenden und dafür sorgen, dass der Gewaltschutz in Berlin gestärkt wird“, fordert Haghanipour.

Ein Datenschutzproblem!?

Ein wirksames Mittel gegen Femizide sehen Haghanipour und Ursprung in den sogenannten multiinstitutionellen Fallkonferenzen, die im Aktionsplan vorgesehen sind. Hierbei sollen verschiedene Einrichtungen zusammenarbeiten und Schutzstrategien für gewaltbetroffene Frauen erstellen: die Polizei, die zuständigen Bezirksämter sowie Beratungsstellen.

In Bundesländern wie Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist das bereits gängige Praxis. In Berlin stellt sich bislang jedoch die Datenschutzbeauftragte dagegen. Um das Datenschutzproblem zu umgehen, hat Innensenatorin Iris Spranger (SPD) interne Fallkonferenzen für die Sicherheitsbehörden angekündigt – ohne Beteiligung der Beratungsstellen.

Dabei sei es essenziell, diese mit einzubinden, erklärt Ursprung: „Die Beratungsstellen sind die wichtigste Vertretung der Betroffenen.“ Auch Haghanipour kritisiert die Ankündigung Sprangers als „Fallkonferenz Light“. Es scheint, als habe der Datenschutz Vorrang vor dem effektiven Schutz von Frauen und Mädchen vor Mord und Gewalt.

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