Berliner Neutralitätsgesetz: Ein Kampf mit allen Mitteln
Ein höchstrichterliches Urteil schien den Streit um das Neutralitätsgesetz beendet zu haben. Doch an der Einstellungspraxis hat sich nichts geändert.
Am 27. August verurteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) Berlin zur Zahlung einer Entschädigung an eine Lehrerin. Die Bildungsverwaltung hatte sie mit Verweis auf das Neutralitätsgesetz, das bestimmten Berufsgruppen, darunter LehrerInnen, das Tragen religiös konnotierter Kleidung verbietet, abgelehnt. Dies gehe nicht, so die Richter: „Das Neutralitätsgesetz ist in diesen Fällen verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des Tragens eines sogenannten islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt.“
Sprich: Ein pauschales Berufsverbot ist Unrecht, weil es gegen die Freiheit der Religionsausübung verstößt. So hat es das Bundesverfassungsgericht 2015 vorgegeben – darin müsse sich Berlin halten, so die BAG-Richter.
Auf diese höchstrichterliche Entscheidung hatten viele gewartet – auch die rot-rot-grüne Koalition, die in Sachen Neutralitätsgesetz schon lange nicht einig ist. Grüne und Linke wollen es ändern, die SPD daran festhalten. Einig war man sich nur, dieses Urteil abzuwarten – und danach zu handeln. Daher fordert nun Sebastian Walter, Sprecher für Antidiskriminierungspolitik der Grünen-Fraktion, der Senat müsse zu einer Neubetrachtung des Gesetzes kommen. „Wir sind für eine gesetzliche Klarstellung, die Rechtssicherheit herstellt“, sagt er. „Unsere Erwartung ist, dass nun schnellstmöglich die bisherige Einstellungspraxis an den Schulen geändert wird.“
„Ein Meilenstein“
So sieht das auch die Klägerinnenseite. „Für die betroffenen Frauen ist das Urteil ein Meilenstein“, sagt Zeynep Çetin vom Verein Inssan und Projektleiterin des dort angesiedelten Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit. Das Netzwerk unterstützt und begleitet seit Jahren Lehrerinnen mit Kopftuch, die gegen die Bildungsverwaltung klagen – fast immer haben sie vor Gericht Recht bekommen. Auch die Klägerin im aktuellen Fall wird von Inssan unterstützt.
Zudem hat Çetin eine Betroffenengruppe gegründet, in der sich rund 40 Pädagoginnen mit Kopftuch – Studentinnen, Referendarinnen, Lehrerinnen – über ihre Situation austauschen. „Natürlich haben die Frauen gehofft, dass das Land ihnen jetzt gleichberechtigten Zugang und die freie Ausübung ihres Berufs gewährt.“
Die Hoffnungen wurden enttäuscht. Nach wie vor lehne die Schulverwaltung die Einstellung von Erzieherinnen und Lehrerinnen ab, berichtet Çetin. In einem Fall hat sie als Anwältin nun Klage erhoben beim Arbeitsgericht. Es geht um eine staatlich anerkannte Erzieherin, die an einer Grundschule Praktikum gemacht hatte – was mit Kopftuch erlaubt ist, ebenso wie das Referendariat – und als pädagogische Unterrichtshilfe einstellt werden sollte.
„Vier Tage hat sie bereits dort gearbeitet, als die Schulleitung ihr mit Bedauern mitteilte, dass sie wegen ihres Kopftuchs doch nicht bei ihnen arbeiten dürfe“, berichtet Çetin. Der taz liegt ein anonymisiertes Schreiben des Kollegiums an die Schulaufsicht vor, aus dem hervorgeht, dass die Erzieherin „zur vollsten Zufriedenheit“ ihre Arbeit gemacht habe und an der Schule sehr erwünscht sei.
Katarina Niewiedzial, Integrationsbeauftragte des Senats
Das Beispiel zeigt: Es gibt Schulleitungen und Kollegien, die kein Problem mit Pädagoginnen mit Kopftuch haben. Zwar ist der Interessenverband Berliner Schulleiter ganz auf Linie der Bildungsverwaltung, die vor Gericht immer argumentiert hat, Lehrerinnen mit Kopftuch seien per se eine „Gefahr für den Schulfrieden“ – ohne dies je belegt zu haben. Beim Lehrerverband GEW sieht die Sache aber schon anders aus: Dort halten sich Befürworter und Gegner des Neutralitätsgesetzes etwa die Waage, sagt der Vorsitzende Tom Erdmann.
Viele wollen sich jetzt bewerben
Dass bei Frauen und Schulleitungen nach dem Urteil große Hoffnung herrschte, sagt auch Miriam Aced, Sprecherin von #gegenBerufsverbot, einem Bündnis mehrerer Organisationen aus dem Antidiskriminierungsbereich. „In die Beratungsstellen unserer Mitglieder kommen nun immer wieder Frauen und sagen, sie wollen sich nun bewerben!“ Sie höre auch, dass Schulleitungen bereits „von oben“ gerügt worden seien, weil sie jetzt Lehrerinnen mit Kopftuch einstellen wollten.
Auch die Integrationsbeauftragte des Senats, Katarina Niewiedzial, hat mit betroffenen Frauen gesprochen. Die Gespräche hätten ihr gezeigt: „Es geht schon lange nicht um die Neutralität des Staates, sondern um eine Ungerechtigkeit, von der ausschließlich gut qualifizierte Frauen betroffen sind. Berlin muss seine Einstellungspraxis ändern.“
Doch die Bildungsverwaltung denkt gar nicht daran. Man warte noch auf die schriftliche Urteilsbegründung, so der Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Die möchte nun am liebsten vor das Bundesverfassungsgericht ziehen – und von dort zum Europäischen Gerichtshof. Diese Möglichkeit besteht theoretisch, da sich das BAG-Urteil auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bezieht, das die deutsche Umsetzung von EU-Recht ist.
Praktisch dürfte dieser Weg kaum Erfolgschancen haben, schließlich wurden die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien erlassen, um Minderheiten zu schützen – nicht, um sie zu diskriminieren. Dennoch hätten die Freunde des Neutralitätsgesetzes damit etwas gewonnen: Zeit. Und die Frauen hätten wieder ein paar Jahre verloren.
Dieser Text ist Teil eines gemeinsamen Schwerpunkts in der Wochenendausgabe 17./18. Oktober der taz.berlin und der taz.nord zum Neutralitätsgesetz an Schulen.
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