Berliner Kneipen nach Corona: Wenn sogar Schlawinchen schließt
Das Schlawinchen ist eine Institution. Seit über dreißig Jahren hatte die Berliner Kneipe ununterbrochen offen. Dass sie nun zu ist, sagt alles.
Ich weiß noch, dass ich einmal gedacht hatte, das Schlawinchen würde sicher auch die Apokalypse überstehen. Egal, was auf der Welt geschah, immer, wirklich immer war in dieser Kneipe was los. Tausendmal war ich an ihr vorbeigelaufen, um die U-Bahn an der Schönleinstraße zu nehmen. Meist sah man durch die schmuddeligen, gewölbten Fenster und den sich dahinter stauenden Rauchdunst hindurch eine Horde Menschen gestikulieren und palavern.
Die Musik und das Gerede drangen gedämpft nach außen – oft ein wilder Sprachenmix, der aufgrund der hohen Pegelstände schwer zu entschlüsseln war. Manchmal prügelten sich Leute vor der Tür. Wenn die Party Montag morgens um 8 Uhr auf dem Siedepunkt war, was vorkam, schien die Relation zwischen Außen- und Innenwelt, also in dem Fall zwischen Straßenwelt und Schlawinchenwelt, merkwürdig verschoben zu sein.
An diesem Sonntag ist alles anders. Als ich an der Kneipe mit den bunten Holzskulpturen und dem Anhänger davor – der Anhänger mit der Kneipenmutti auf der Plane gehört unbedingt dazu – vorbeilaufe, sehe ich einen handgeschriebenen Zettel, der an der Tür hängt. Darauf steht: „Achtung! Aufgrund gesetzlicher Bestimmungen zur Corona-Pandemie müssen wir leider für unbestimmte Zeit schließen! Wir sehen uns wieder, wenn wir alle tot sind. Prost Nachbarn!“
Ich lache kurz, schön räudiger Altkreuzberger Humor, zugleich wird mir klar, was all diese Wörter wie Shutdown, Lockdown, Crackdown konkret bedeuten. Wenn ein Virus dafür sorgen kann, dass des Schlawinchen schließt, muss es ein sehr gefährliches Virus sein.
Da hatte ich all die Tage aufmerksam Christian Drosten und Lothar Wieler zugehört, mir Livestreams des Robert-Koch-Instituts zu Gemüte geführt, die steilen Kurven der Fallzahlen studiert, und doch kommt Covid-19 erst jetzt richtig bei mir an, vorm Schlawinchen.
Auch wenn ich eher selten dort war: Es war so beruhigend gewesen, einen Ort in der Nähe zu wissen, wo man jederzeit einen trinken gehen kann. Jederzeit hieß wirklich jederzeit, seit über dreißig Jahren hatte die Kneipe ununterbrochen offen. Hatte. War. Gewesen.
Ich denke an einen Heiligabend zurück, den ich im Schlawinchen verbracht hatte, vielleicht 2014. An der Bar unterhielt ich mich lange mit einem schwarzen Amerikaner, der eine Melone trug. Worüber, weiß ich nicht mehr. Für alles, was im Schlawinchen passiert, gilt ohnehin Ähnliches wie für die Achtziger: Wer sich an sie erinnern kann, hat sie nicht miterlebt. Der Typ tanzte irgendwann am Tresen, das Bierglas in der Hand. Zu welcher Musik, weiß ich nicht mehr.
Damals hatte ich belustigt an die Decke gestarrt. Die Decke ist vielleicht das Beste am Schlawinchen, weil es so viel zu gucken gibt. Es sieht so aus, als hätten sie einen halben Trödelladen an die Zimmerdecke gehängt: Radfelgen, Puppen, Zahnräder, Schaukelpferde, Glocken und Trommeln baumeln dort, meine ich zu erinnern, dazwischen viele Spinnweben.
Ich hatte mich damals beduselt gefragt, ob nicht der ganze Raum einfach falsch herum stand, ob nicht da oben vielleicht der Fußboden ist und wir am Tresen vielleicht von der Decke hängen. Die Gesetzmäßigkeiten schienen mir außer Kraft gesetzt.
Als ich an diesem Sonntagnachmittag, dem ersten Frühlingstag, an dem die Menschen in der Sonne sitzen, an dem sich vor Cafés und Eisdielen Menschentrauben bilden und an dem sogar am Späti das Klopapier aus ist, weiter durch die Straßen gehe, habe ich ein ähnlich merkwürdiges Gefühl. Nur bin ich diesmal nüchtern.
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