Berliner Kindernotdienst: System gesprengt
Zu viele Kinder und zu wenig Personal belasten die Mitarbeitenden des Kindernotdienstes in Berlin. Sie haben deshalb Gefahrenanzeigen gestellt.
Eine Gefahrenanzeige, auch Überlastungsanzeige genannt, ist eine schriftliche Mitteilung der Beschäftigten, in der sie für ihre Arbeitergeberin schildern, was zu erhöhtem Stress und Überlastung führt. In der Anzeige heißt es weiter, dass die Mitarbeiter*innen den KND als „keinen guten Ort“ für sich und die Kinder empfinden.
Der Kindernotdienst gehört zu einem Netzwerk von Beratungs- und Unterbringungsangeboten der Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche in Notsituationen bekommen hier für einige Tage ein Bett und Mahlzeiten. Seit Jahren schon fühlen sich die Mitarbeiter*innen überfordert. Sie fordern mehr Stellen und weisen darauf hin, dass immer mehr Kinder in der Jugendhilfe durchs Raster fallen.
Die Gefährdung, die sie für sich und die Kinder in der Einrichtung deshalb ausmachen, schildern die Erzieher*innen in der Gefahrenanzeige anhand unterschiedlicher Situationen, die sich ihnen zufolge im KND in Kreuzberg abgespielt haben. Immer wieder käme es vor, dass die Mitarbeiter*innen die Polizei oder den Krankenwagen verständigen müssten, weil sie selbst die Situation nicht lösen könnten. So auch in einem von ihnen geschilderten Fall, in dem demnach ein Junge eine Scheibe mit seiner Faust einschlug, sodass der Notruf verständigt werden musste:
Der Kindernotdienst (KND) gehört – neben dem Mädchennotdienst und dem Jugendnotdienst – zu einem Netzwerk von Beratungs- und Unterbringungsangeboten des Berliner Notdienst Kinderschutz (BNKS). Im KND können Kinder von 0 bis 13 Jahren unterkommen, sie sollen dort maximal 3 Tage bleiben. Der BNKS verfügt insgesamt über 39 Betten, 10 davon beim KND. 2022 verzeichnete der KND 392 Inobhutnahmen, die im Durchschnitt 7,5 Tage dauerten.
„Kurz nach dem Eintreffen des Arztes brach im Flur eine 13-Jährige zusammen. Laut eigener Auskunft hatte sie Drogen konsumiert. Zum gleichen Zeitpunkt sprangen anwesende Jungen über die von einem Sanitäter erstversorgte 13-Jährige und forderten lautstark Verpflegung. Ein weiteres 13-jähriges Mädchen, dass offensichtlich eingekotet hatte, stand daneben und suchte Zuwendung von einer*m der diensthabenden Erzieher*innen. In diesem Moment rutschte dem Arzt die Frage heraus, ob es sich ‚hier um ein Irrenhaus handelt‘.“
In der Jugendhilfe gelten Kinder wie die oben beschriebenen als „verhaltensoriginell“, sie stellen für sich und andere oft eine Gefahr dar. Aufgrund der schweren Vermittelbarkeit solcher Kinder und der Überlastung anderer Jugendamtseinrichtungen blieben sie statt – wie vorgesehen – ein bis drei Tage oft deutlich länger im Notdienst. Ein Kind etwa habe im vergangenen Jahr 120 Tage in der Einrichtung bleiben müssen.
Krank zur Arbeit gegen Personalmangel
Gerade für „verhaltensoriginelle“ Kinder wäre ein strukturierter Alltag und ausreichend Fachpersonal hilfreich. Das alles können die pädagogisch ausgebildeten Erzieher*innen in einer Aufnahmestelle, die nur für akute Krisen gedacht ist, aber nicht leisten. Das führe auch zu gewalttätigen Übergriffen, letztes Jahr etwa habe ein Junge eine Erzieherin schwer verletzt. Einige Kinder konsumierten Drogen, andere brauchten regelmäßig Psychopharmaka.
Die Situation verschlechtert sich weiterhin, schildern die Mitarbeiter*innen in der Gefahrenanzeige. Neben deutlich mehr Kindern komme noch der Personalmangel dazu.
Dies geht aus einer weiteren Überlastungsanzeige der Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle des KND vom Dezember 2022 hervor: Das Jugendschutzgesetz schreibt eigentlich ein Vieraugenprinzip bei der Betreuung der Kinder vor. Damit das überhaupt eingehalten werden könne, übernähmen Sozialarbeiter*innen, die eigentlich für Beratungsangebote wie die Telefonhotline zuständig sind, Schichten im Unterbringungsbereich.
Laut der Anzeige sind etwa im Dezember insgesamt 18 Mitarbeiter des Kindernotdienstes nicht arbeitsfähig, wegen Krankheit oder länger geplanten Urlauben. Das entspreche etwa 58,1 Prozent des gesamten Stundenumfangs. Um alle Schichten abzudecken, kämen Mitarbeiter*innen sogar krank zur Arbeit.
Mehr Struktur hilft
Die Senatsverwaltung für Jugend erkennt in einer Stellungnahme gegenüber der taz „keine akute Personalnotlage aufgrund eines Personalmangels“ im Kindernotdienst: Von insgesamt 36 Stellen seien aktuell bei Sozialarbeiter*innen 1,65 Stellen und bei Erzieher*innen 1,25 Stellen nicht besetzt. Trotz des Fachkräftemangels könnten Stellen im KND immer rechtzeitig besetzt werden. Durch das vorhandene Personal und die Unterstützung der Sozialarbeiter*innen bei Engpässen sei eine ausreichende Betreuung gewährleistet.
Die Senatsverwaltung räumt aber ein, dass es die Situation im Kindernotdienst durch längere Aufenthaltszeiten der Kinder (2022 sind es im Schnitt 7,5 Tage) und komplexere Hilfebedarfe für die Angestellten schwieriger werde. Deshalb sei mehr Geld eingeplant. Es solle ebenfalls überprüft werden, ob beim Personal aufgestockt werden müsse.
Außerdem solle das Unterstützungsangebot von Erzieher*innen ausgebaut werden, unter anderem in Form von Beratungen des Drogennotdienstes, Schulungen für den Umgang mit Gewalt und Aggressionen bei den Kindern und psychosozialer Unterstützung für Kinder und Mitarbeiter*innen.
Da es mittlerweile eine längere Zeit brauche, um Kinder an andere Einrichtungen zu vermitteln, will die Senatsverwaltung nach eigenen Angaben die maximale Aufenthaltsdauer von drei Tagen erhöhen. Für die Kinder solle vor Ort eine bessere Tagesstruktur geschaffen werden. Ob dafür dann auch mehr Personal bereitstünde, bleibt in der Antwort offen. Die Erzieher*innen forderten in der Gefahrenanzeige allerdings „aufgrund der Dringlichkeit“ eine „baldige Verbesserung der Arbeitssituation“.
Ein Mitarbeiter, der wegen der Zustände vor Ort nun gekündigt hat, sieht diese kurzfristige Hilfe bisher nicht gegeben. Seit der Überlastungsanzeige im Dezember habe sich an der Gesamtsituation nichts Grundlegendes geändert, schildert er der taz. Wie genau die Senatsverwaltung die Maßnahmen umsetzen wolle, ist demnach noch unklar.
In der Zwischenzeit wollen die KND-Mitarbeiter*innen mit Überlastungsanzeigen, Verhandlungen und Protestaktionen weiter für Verbesserungen kämpfen. „Man muss sich dabei immer vergegenwärtigen, dass es um Kinder geht, über die wir sprechen“, sagt der ehemalige Mitarbeiter. „Das ist das Traurige daran.“
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