Berliner Hasenheide: Bockwurst und weiße Elefanten
Berlin hat viele coole Parks – einer der beliebtesten ist die Hasenheide in Neukölln. Manche machen Sport, andere verkaufen Drogen.
Geht man vom Hermannplatz aus zum Berliner Volkspark Hasenheide im Stadtteil Neukölln, gelangt man zu den Füßen Buddhas. Zunächst aber muss man vorbei an einem Rest der Originalfassade des Kaufhauses Karstadt aus den zwanziger Jahren, das es mit seinen großen Türmen und den 72.000 Quadratmetern Verkaufsfläche locker mit New York hatte aufnehmen konnte, bevor es 1945 von der SS in die Luft gesprengt wurde. Die seinerzeit im Keller eingelagerten Vorräte und Munitionsbestände sollten nicht in die Hände „der Russen“ fallen.
Verkehr fließt rauschend, eigentlich eher krachend laut. Bis zu den Füßen Buddhas ist es nun nicht mehr weit, nur noch der „Bauhaus“-Baumarkt und der Konzertveranstaltungsort „Huxleys Neue Welt“ liegen dazwischen. Letztere hieß bis 1982 schlicht „Neue Welt“ hieß. Ein Gelände am Fuße des Neuköllner Rollbergs, das zu Kaiser Wilhelms Zeiten der Volksbelustigung diente. Militärkapellen spielten zum Bockbierfest auf, es gab ein Hippodrom, eine Freiluftmanege, große Säle, eine elektrische Eisenbahn und eine „Indische Halle“.
Viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde in der „Neuen Welt“ dann dem Boxsport gefrönt, was dem „Bockbierfest“ nicht im Wege stand. Und noch viel später, in den Siebzigern und Achtzigern, gab es hier dann die legendären „Tuntenbälle“, bei denen Zarah Leander sang, der außer den Schwulen niemand mehr zuhören wollte. Und manchmal, so berichten es Zeitzeugen, sollen sogar halbnackte Tänzer auf weißen Elefanten eingeritten sein.
Gleich angrenzend befindet sich nun endlich der Königsturm und dahinter gleich der Park. Sagenhafte 17 Meter ist der Turm hoch und mit 180 Göttern verziert. Die Füße Buddhas! Zumindest soll der Turm diese darstellen und dereinst Eingangsportal sein für Deutschlands größten hinduistischen Tempel. 864 Quadratmeter groß. Immer, wenn man hier vorbeikommt, sieht man ein oder zwei oder drei Männer an dem Turm herumwerkeln. Seit über zehn Jahren schichten sie Ytong-Steine aufeinander, die auf Paletten herumstehen und fahren mit Schubkarren herum; manchmal rauchen sie eine.
Turnvater Jahn mit Bauschaum
Wenn dieses Tor kein Symbol für die menschliche Hoffnung ist, dann gibt es keine. Angestrichen ist es ja auch schon, die Spitze leuchtet golden-gelb. Und in der Wartezeit trifft sich die buddhistische Gemeinde in einer alten Turnhalle hinter dem Turm. Hochzeiten und andere Feste werden nun hier gefeiert – aber die Berliner Hasenheide wäre auch nicht die Hasenheide, wenn sich keine Abgründe auftun würden: Im März 2017 haben „Höhenretter“ der Berliner Feuerwehr eine mumifizierte Leiche aus dem Turm des Hindu-Tempels geborgen, der „Verwesungsgrad“ habe laut Polizeisprecher darauf hingewiesen, dass die Person schon länger tot gewesen sei.
Ausgerechnet in einer Turnhalle am Fuße des Turnvater-Jahn-Denkmals wird nun nicht mehr geschwitzt, sondern der Spiritualität gefrönt. Das Jahn-Denkmal, errichtet im Jahr 1857 und von den Nazis anlässlich der Umgestaltung des Parks zu den Olympischen Spielen im Jahr 1936 an den jetzigen Standort verbracht, erinnert daran, dass Friedrich Ludwig Jahn hier in der Hasenheide 1811 den ersten Turnplatz Deutschlands errichtet hat.
Turnen für das Vaterland – entsprechend ehrfürchtig reagiert heute die durch Schulsport drangsalierte, längst kosmopolitisch orientierte Weltjugend auf das Monument: Das bronzene Haupt Jahns wurde schon mit Bauschaum, flüssigem Teer, Metallschnippseln und allerlei Farbsprengseln verziert. Unzählige Male. Das Denkmal wurde im Prinzip längst aufgegeben, die permanente Reinigung und Instandsetzung verschlänge zu viele Gelder, die man lieber in die drangsalierten Grünanlagen investiert.
Leibesübungen aber finden hier im Umfeld von Deutschlands erstem Turnplatz in immer noch beachtlichem Ausmaß statt, auch wenn sie längst nicht mehr der Ertüchtigung des Volkskörpers dienen, sondern der Selbstoptimierung in kapitalistisch-neoliberalen Zusammenhängen – schon im Morgengrauen ziehen die Geknechteten der Gesundheitsdiktatur hier joggend ihre Runden, wälzen sich in atmungsaktiver Funktionswäsche auf dem noch nassen Gras, um sich zu stretchen und zu ertüchtigen.
„Pssst…Brauchst du was?“
Regelmäßig sieht man hier auch Gruppen, die angeleitet werden: Der Vorturner im knapp sitzenden Trikot, das in unregelmäßigen Abständen Bauch- und sonstige Muskulaturstränge aufblitzen lässt, laut zu aus transportabler Box dröhnender Musik schreiend und die sich schindende Gruppe im Halbkreis auf Turnmatten kniend und hechelnd. Dem Turnvater, Bauschaum auf dem Kopf hin oder her, wäre es sicher ein Wohlgefallen.
Nicht gefallen würde ihm, was sich sonst so zu seinen Füßen ereignet. Nicht, dass die Herren, die hier herumlaufen, nicht sportlich wären. Im Gegenteil sind sie oft recht muskulös – doch sie halten sich aus beruflichen Gründen hier auf. Ihr Job besteht darin, den Bedarf der Berliner Party-Tourist*innen an illegalen Substanzen zu decken.
Während die Einheimischen in der Regel jemanden in ihrem Umfeld kennen, der ihnen „was besorgt“, müssen die mit Easy Jet Angereisten und an Flughäfen Durchkontrollierten ihren Kram in Berliner Parkanlagen organisieren. So wurde die Gegend um das Jahn-Denkmal nunmehr zur internationalen Begegnungszone, in der gewispert und gemauschelt wird. „Psssst.“ „Brauchstduwas?“ „Bss-Bss.“
Auf dem Weg hinauf auf die kleine Anhöhe laufen alle quer über die Wiese, niemand benutzt den umlaufenden Weg. Eine regelrechte Rinne hat sich hier gebildet, durch die bei schlechtem Wetter das Regenwasser strömt und bei Sonnenschein die Besucher, die mit ihren Füßen den märkischen Sand zutage bringen. Die Menschen machen sich den Park selbst.
Die Grünanlagen sind durchzogen von kleinen Wandelgängen und Erdlöchern, in denen die Ware vergraben ist. Und ab und zu gibt es eine richtig ernst gemeinte Razzia: Ein Hubschrauber kreist über dem Park, Fahrzeuge mit Blaulicht kommen über die Fußgängerwege herangerast und die sportlichen Männer (nie sind es Frauen) rennen in alle Richtungen davon.
Anschließend stochern die Beamten mehr oder weniger lustlos im Waldboden herum, um Verstecke zu finden. Wegen des Bockbiers kommen die jungen Leute jedenfalls nicht aus der ganzen Welt nach Berlin – und wer 48 Stunden durchfeiern möchte, schafft das auch im Alter von 18 Jahren nicht nur mit Traubenzucker. Einen großen Erfolg jedenfalls konnte die Berliner Polizei hier unlängst erzielen, als sich die Beamten als „Touris“ verkleideten, um die Dealer in die Irre zu führen. Wie diese Verkleidung genau aussah, wurde nicht mitgeteilt, aber man kann es sich ungefähr vorstellen. Berghain-Schwarz statt Beamten-Blau. Katz und Maus in der Hasenheide.
Der Handel in der Hasenheide gehört zum Alltag in diesem Park, und die jungen Familien mit ihren Kindern ziehen an dem Treiben vorbei, als würden hier Rostbratwürste verkauft oder Broschüren von der SPD verteilt. Vorbei an dem großen Gehege, in dem bis vor Kurzem noch zwei Kamele mit Hautproblemen ihr Dasein gefristet haben. Jedenfalls hatten sie oft große Löcher im Fell – so wie Menschen, die viel Stress erlitten haben, im Haupthaar oder im Bart.
Das Kamelgehege gleich neben dem eingezäunten Sportfeld, in dem junge Männer aus dem Kiez Bällen nachlaufen und dabei ordentlich schwitzen und die Augen aufreißen und sich vergessen für eine Stunde und nur ihren Körper spüren, es ist nun verwaist. Im Winter, das ein unvergessliches Bild, haben die Kamele manchmal Weihnachtsbäume zu essen bekommen.
Auch das ist so eine Sache in der Berliner Hasenheide, das mit dem Essen und den Tieren. „Bitte keine Pommes frites und keine Eiscreme an die Tiere verfüttern“ steht auf einem großen Schild am Streichelzoo. Wir sind hier ja nicht in Prenzlauer Berg. Die Kinder dürfen Zucker essen. Und wie. Und Pommes bekommen sie offensichtlich auch, sonst stünde das Schild ja nicht hier. Im Streichelzoo gibt es erschöpft aussehendes Geflügel und erbarmungslos liebkoste Paarhufer.
Richtig bundesweiten Stress aber gab es, als neulich nachts zwei Schafe aus dem Streichelzoo gestohlen, geschlachtet und verzehrt wurden. Das war dann eine Straftat, die in vielerlei Hinsicht den Rahmen der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2018 gesprengt hat. Zootiere essen? Überhaupt Tiere essen? Tiere schlachten? Hunger haben?
Kommt man vom U-Bahnhof Südstern zur Hasenheide, landet man im Vatikan. Die Apostolische Nuntiatur in Berlin ist die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls in der Bundesrepublik Deutschland und befindet sich in direkter Nachbarschaft zur St.-Johannes-Basilika, die direkt an die Hasenheide angrenzt. Mögen sich auch die nordischen Botschaften im nobleren Stadtteil Tiergarten eine Sauna teilen, diese Botschaft, die des Vatikanstaats, hat immerhin eine eigene Kapelle.
Die schöne Terrasse des Vatikan
Überhaupt ist alles aus Marmor, denn schließlich hat hier der Apostolische Nuntius seinen Sitz, der offizielle Vertreter des Papstes in Deutschland. Über der Empfangshalle gibt es eine Dachterrasse, von der aus man den ganzen Volkspark gut im Blick hat – und als Benedikt XVI. 2011 in Berlin zu Besuch war, hat er als Übernachtungsgast womöglich die Aussicht auf das irdisch-grüne Paradies des Arbeiterbezirks Neukölln zumindest kurzzeitig genießen können.
Was der Papst da wohl alles zu sehen bekommen hat. Am harmlosesten ist sicher noch die Hasenschänke im Zentrum des Parks, gleich angrenzend an das Freiluftkino und den im Stil des Neokolonialismus gestalteten Kinderspielplatz. Alkohol wird hier genossen, zumeist in Flaschen. Und Filterkaffee, der in klobigen Mitropa-Tassen serviert wird. Das Gebäude der Hasenschänke, ein Pavillon, ist ein verkanntes Schmuckstück, das Dach ruht auf Säulen, die sich kurz unterhalb der Dachfläche ein wenig verjüngen, so dass die ganze Konstruktion an ein luftig leichtes Laubblatt erinnert.
Die Hasenschänke scheint jeden Moment wegfliegen zu können. Das ist aber schon eine viel zu elaborierte Sicht auf die Dinge hier. Es gibt Bockwurst und Krautwurst und Knacker mit Senf zum Kaffee und die französischen Erasmus-Studenten können es nicht fassen. Oder Streuselkuchen aus der Tiefkühlbäckerei. Und es gibt eben kein Butterbrot für acht Euro, keinen Quinoa-Salat und auch keine Smoothies.
Man sitzt auf Plastikstühlen und kann auf den eher in Anführungsstriche zu setzenden Rosengarten schauen – und im Herbst, wenn es kühler wird, bekommt man auf Anfrage sogar ein Sitzkissen. Kostenlos. Neulich, bei der Fußballweltmeisterschaft, haben die muskulösen Drogendealer hier am Public Viewing teilgenommen. So viele von ihnen auf einmal, dass die Touristen eben Club Mate kaufen mussten, um wach zu bleiben. In der Hasenschänke trinkt man stattdessen Helles Hefe und unterhält sich über Sachleistungen und Anträge beim Amt, das dann auf Deutsch.
Noch mehr Gläubige
Kommt man vom Columbiadamm her zur Hasenheide, vom Tempelhofer Feld her, dann trifft man auf die im Jahr 2005 eröffnete Şehitlik-Moschee, errichtet auf dem Gelände des bereits im Jahr 1866 als Diplomatenfriedhof angelegten Türkischen Friedhofs. Sie bietet 1.500 Gläubigen Platz, der Gebetssaal im ersten Obergeschoss hat eine Fläche von 365 Quadratmeter. Genutzt wird sie vorwiegend von türkischstämmigen Gläubigen aus Kreuzberg und Neukölln – und die Imame werden von der Ditib gestellt, einer türkisch-islamischen Organisation, die 1984 als deutscher Ableger des staatlichen türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten gegründet worden war und seit Jahren eine Unabhängigkeit behauptet, die immer wieder angezweifelt wird.
Nur vielleicht also ist die Şehitlik-Moschee so etwas wie eine inoffizielle Botschaft Ankaras. Sicher ist nur, dass es hier regelmäßig Stress wegen Falschparkens der Moschee-Besucher gibt – das ist es, was die besorgten Bürger tatsächlich auf die Palme bringt; wobei die Parkplatznot eher der Tatsache geschuldet ist, dass der große Columbiadamm zunehmend als Lkw-Raststätte genutzt wird. Aber hey: Die Muslime parken falsch!
Geht man von dort ein Stück hinein in die Hasenheide, findet man auf der rechten Seite ein kleines eingezäuntes Naturgehege. Ein Teich mit Schilf und Schwänen und Enten und allerlei schützenswertem Getier, daher auch der Zaun und eine hölzerne Balustrade für die Besucher. Die Natur soll hier ein bisschen ihre Ruhe haben und nicht schon wieder genutzt werden, wenn, dann höchsten zur Erbauung und Erholung. Aber die Balustrade ist baufällig geworden und alles ist nun abgesperrt.
Früher kamen die Rentner her, um die Eichhörnchen zu füttern mit Erdnüssen aus riesigen Tüten, die sie beim Discounter gekauft haben. Die Hasenheide müsste auch eigentlich Eichhörnchenheide heißen, Hasen habe ich hier noch nie gesehen – als der „Große Kurfürst“ hier gejagt hat, da hat es sicher welche gegeben. Nämlich in einem extra angelegten Hasengehege.
Kein Spiel für Prüde
Von der eingezäunten Natur ist es dann nicht mehr weit bis Sodom und Gomorra, denn hier, unterhalb der „Rixdorfer Höhe“, eines aus etwa 700.000 Kubikmeter Trümmerschutt aus dem Zweiten Weltkriege bestehenden Berges, befindet sich die Nacktwiese. Männlein und Weiblein, besonders Männlein, behandeln ihre Körper hier mit Licht und Luft, und die Amerikaner, die hier in Berlin für ein Jahr sind, um eine gute Zeit zu haben, bevor sie sich dem Ernst des Lebens stellen müssen, fallen in Ohnmacht.
Nicht wenige der Männlein verirren sich während der Sonnenanbetung in den dahinter liegenden, von Gebüsch und an Wildwechsel erinnernde Wege durchzogenen Wald. Es ist jedoch kein Rotwild, das hier seine Kreise zieht. Vielmehr handelt es sich um Männer auf der Suche nach gleichgeschlechtlichen sexuellen Begegnungen. Manche rennen, manche spazieren. Es ist ein Art Ballett, das hier aufgeführt wird nach uralten Regeln, von denen niemand mehr weiß, wer sie erfunden hat.
Ein Tuntenball unter freiem Himmel: Blickkontakt, einer geht vor, der andere hinterher, dann geht wieder der andere ein Stück vor. Und dann trifft man aufeinander – oder eben auch nicht. Mancher junge Mann ist auch beruflich hier, bietet sich feil, mal für fünf, mal für zwanzig Euro oder mehr. Andere haben sich nur „verlaufen“, sie werden sich später gar nicht mehr erinnern, überhaupt hier gewesen zu sein.
All das geschieht nun zu den Füßen Buddhas, in Rufweite des Muezzins und womöglich einsehbar von der Terrasse des Vatikans – es ist ein wahrhaftig religionsüberschreitendes Treiben, übertroffen in seiner Lebensprallheit wird es nur einmal im Jahr zu den „Maientagen“. Denn dann ist Kirmes in der Hasenheide, genau dort, wo früher bei Preußens eine große Schießanlage war, drängen sich nun Karussells und Fressbuden und es ist tagelang ein Gedröhn mit Wumms und Bum.
Kinder schreien und mit Helium gefüllte bunte Luftballons reißen sich los und fliegen die Rixdorfer Höhe hinauf. Es riecht nach Bratwurst und Popcorn und Andrea Berg singt was und Helene Fischer ja sowieso. Dann an den Maientagen gehört die Hasenheide ganz allein den Berliner Ur-Kiezbewohnern. Den Kowalskis, Akyols, El Khourys und Schmidts.
An den restlichen Tagen aber kommen hier wirklich alle Menschen, die sich in Berlin aufhalten, auf eine Art und Weise gut aneinander vorbei, dass man es fast schon als Utopie bezeichnen könnte, wenn es nicht schnöder Alltag wäre. Was für ein Albtraum für die AfD.
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