Berlinale-Film „Girls on Wire“: Familie als Drahtseilakt
Die chinesische Filmemacherin Vivian Qu erzählt in „Girls on Wire“ von Cousinen, die unter einer fordernden Familie leiden. Inklusive beeindruckender Choreografie.
Familiäre Wurzeln können Halt geben, Zugehörigkeit bedeuten – sie binden aber auch an Menschen, die man lieber hinter sich gelassen hätte. Im chinesischen Drama „Girls on Wire“ heißt Verwandtschaft vor allem Verpflichtung und Verstrickung. Sie wirkt als unauflösbares Band, das zwei gegensätzliche Kusinen immer wieder in ihre gemeinsame Vergangenheit zurückzerrt.
Die jüngere der beiden Frauen, Tian Tian (Liu Haocun), ist gerade den Fängen eines Drogenkartells entkommen. Umgehend macht sie sich auf die Suche nach der älteren Fang Di (Wen Qi), die den Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Sie arbeitet nun als Stuntfrau in der Filmstadt Xiangshan, hauptsächlich in massenhaft für den chinesischen Markt produzierten Wuxia-Filmen.
Ihren harten Alltag zeigt Regisseurin und Drehbuchautorin Vivian Qu in eindrucksvoll choreografierten Sequenzen: Fang Di schwebt am Drahtseil über Dächern oder wird als Schwertkämpferin für spektakuläre Kampfszenen in eiskaltes Wasser getaucht. Sie nimmt noch die waghalsigsten Drehangebote an – auch, um ihre Familie finanziell zu unterstützen.
Dass Tian Tian lediglich nach mehr Geld verlangt, vermutet Fang Di und reagiert entsprechend abweisend auf ihr Wiedersehen. Weshalb die Familie überhaupt derart darbt, leuchtet „Girls on Wire“ auf einer zweiten Zeitebene aus: In Rückblenden entfaltet sich eine von Streit und finanziellen Sorgen geprägte Kindheit, die untrennbar mit der Sucht von Tian Tians Vater (Zhou You) verbunden ist.
Für harte Drogen erbettelt er sich ständig Geld von der Familie, zwingt auch seine Tochter zu Betrügereien. Vor allem seine Schwester (Peng Jing), die die familieneigene Textilfabrik ohnehin kaum finanziell über Wasser halten kann, gibt ihrem Bruder aus Schuldgefühlen heraus immer wieder nach.
In ihrer ausweglosen Lage sind die Kusinen einander letzter Halt: Fang Di wird für die jüngere Tian Tian zur Schutzfigur, ihre enge Bindung bildet das emotionale Herzstück der Handlung. Vivian Qu aber kontrastiert es überraschend mit actiongeladenen Verfolgungsszenen und Situationskomik: In der Gegenwart sind Tian Tian bald tölpelhafte Schergen des Kartells, das die Schulden des Vaters eintreiben will, auf den Fersen. Zwischenzeitlich wird das Trio zu unfreiwilligen Statisten an einem Filmset – und „Girls on Wire“ entwickelt sich zur Gaunerkomödie. Dieser schnelle Tonwechsel irritiert bisweilen, auch fügen sich die unterschiedlichen Stile des Films nicht immer zu einem stimmigen Ganzen zusammen.
Zwischen Melodram, Showbiz-Satire und Kritik am konfuzianischen Prinzip der kindlichen Pietät wird „Girls on Wire“ allerdings zu einem einnehmend eigensinnigen Spektakel, in dem auch viel chinesische Zeitdiagnose steckt. Das familiäre Grundmotiv gerät dabei nicht aus dem Blick: Bis zuletzt bleibt spannend, ob den Kusinen der Schritt in die Freiheit gelingt.
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