Berlin und der Krieg in der Ukraine: Das Gedächtnis der Frontstadt

Der ukrainische Botschafter erinnert an die Luftbrücke. Hat die Hilfsbereitschaft in Berlin auch mit seiner Geschichte zu tun? Ein Wochenkommentar.

Gail Halvorsen, Pilot des Rosinenbombers

Veteran der Luftbrücke: Gail Halvorsen vor dem Rosinenbomber Foto: dpa

Eine Woche vor Russlands Überfall auf die Ukraine ist Gail Halvorsen gestorben. Berühmt geworden war der 101-Jährige als Pilot des Rosinenbombers. „Die Luftbrücke zur Versorgung des Westteils Berlins hat aus Siegern und Besatzern auch Freunde gemacht“, erinnerte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) an den Piloten. „Gail Halvorsen wurde zu einem Gesicht dafür. Die West-Alliierten wurden zu Garanten der Freiheit.“

Fast 74 Jahre ist es nun her, dass die Sowjetunion Westberlin am 24. Juni 1948 von der Versorgung auf dem Land-, Schienen- und Wasserweg abgeschnitten hat. Halvorsen war einer der Piloten der Alliierten, die mit ihren Hilfsflügen die bis zum 12. Mai 1949 dauernde Berlin-Blockade ins Leere laufen ließen. Dass er dabei Rosinen für Kinder abwarf, ist die Geschichte in der Geschichte. Denn eigentlich ging es um das Überleben einer Stadt mit 2,1 Millionen Einwohnern.

Es ist der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, der in diesen Tagen an die Luftbrücke erinnert. „Wir haben alle in unseren Geschichtsbüchern gelernt, wie tapfer diese Stadt war, damals, als die Sowjets eine Blockade eingeführt hatten“, sagte er am Donnerstag im Berliner Abgeordnetenhaus. „Heute fühlen sich viele Ukrainer genauso wie die Deutschen damals. Und wir bitten Sie, alles Mögliche zu unternehmen, um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken.“

Was ist das kollektive Gedächtnis einer Stadt, und wie lange reicht seine Erinnerung? Das sind Fragen, die sich angesichts der überwältigenden Bereitschaft, den Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen, in diesen Tagen stellen. Denn wieder einmal ist die ehemalige „Frontstadt des Westens“ aufgrund ihrer geografisch exponierten Lage besonders betroffen. Nirgendwo kommen derzeit in Deutschland so viele Menschen aus der Ukraine an wie in der Hauptstadt.

Wieder in einer Ausnahmesituation

Die Erinnerung an die Geschichte der Stadt mag keinen Trost spenden, aber vielleicht sorgt sie für den gebotenen Trotz.

Wie so oft in seiner Nachkriegsgeschichte befindet sich Berlin in einer Ausnahmesituation. Die erste, mit der es konfrontiert war, waren Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Nach der Luftbrücke verlief die Teilung Europas mit dem Bau der Mauer mitten durch die Stadt. Im Oktober 1961 standen sich am Checkpoint Charlie US-amerikanische und Sowjetpanzer kampfbereit gegenüber.

Als die Volksrepublik Polen 1981 das Kriegsrecht verhängte, war Berlin ein Aufnahmeort von Zehntausenden Flüchtlingen. Noch vor dem Fall der Mauer strömten polnische Händler nach West-Berlin und machten aus dem Potsdamer Platz einen Polenmarkt. Im Herbst 1989 schließlich überwanden die Menschen in Ostberlin ihre Angst und schüttelten die Diktatur ab.

In gewisser Weise ist Berlin bis heute Frontstadt geblieben, eine Frontstadt freilich ohne Krieg. Manche mögen sich daran erinnern, wenn sie Medikamente spenden oder eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Für Jüngere spielt es keine Rolle: Sie sehen, wie gerade ihr Erasmus-Europa in Trümmer gebombt wird. Aber ist Berlin auch selbst, um Giffeys Worte zu benutzen, ein „Garant der Freiheit“? Kann es etwas zurückgeben von dem, was es einst an Hilfe bekommen hat?

Es ist wohl diese Frage, worauf die Erklärung des ukrainischen Botschafters zielt, wenn er darum bittet, Berlin möge alles unternehmen, um die Verteidigungsbereitschaft der Ukraine zu stärken. Die Frage ist berechtigt. Denn auch die West-Alliierten standen damals vor einer schwierigen Entscheidung. Wie würde Moskau auf die Luftbrücke reagieren?

Eines zumindest wusste man: Ein Kriegsgrund wären die Versorgungsflüge, die neun Monate lang im Dreiminutentakt in Tempelhof landeten, für die Sowjetunion nicht gewesen. Die Luftkorridore waren, anders als die Landverbindungen, vertraglich geregelt. Die Luftbrücke war eine logistische Herausforderung, aber keine militärische.

Humanitäre Herausforderung

Russlands Krieg in der Ukraine könnte nun zu einer humanitären Herausforderung werden. Was, wenn sich die Bombardierungen noch Wochen und Monate hinziehen und tatsächlich ein Viertel der Bevölkerung flieht wie in Syrien? Wie viele der zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer würden in Berlin bleiben? Und was, wenn die Preise für Energie und Nahrungsmittel weiter steigen?

Wieder einmal steht Berlin vor einer Zerreißprobe. Die Erinnerung an die Geschichte der Stadt mag keinen Trost spenden, aber vielleicht sorgt sie für den gebotenen Trotz.

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Jahrgang 1963, ist Redakteur für Stadtentwicklung der taz. Weitere Schwerpunkte sind Osteuropa und Brandenburg. Zuletzt erschien bei Bebra sein Buch "Morgenland Brandenburg. Zukunft zwischen Spree und Oder". Er koordiniert auch das Onlinedossier "Geschichte im Fluss" der Bundeszentrale für politische Bildung. Uwe Rada lebt in Berlin-Pankow und in Grunow im Schlaubetal.

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