: Berlin extrem seit 11.15 Uhr
Senat stellt Haushaltsnotlage fest, bereitet Klage vor und will 40 Milliarden vom Bund. Ver.di kündigt Sparideen an
In den kernigen Sprüchen von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) – argentinische Verhältnisse, „reinster Rinderwahnsinn“ – war sie seit Monaten gegenwärtig. Seit gestern gegen 11.15 Uhr ist die Finanzmisere auch amtlich. Nüchtern als Punkt 8 der Tagesordnung hat der Senat gestern offiziell eine „extreme Haushaltsnotlage“ des Landes festgestellt. Maximal acht Wochen soll es dauern, bis Berlin beim Bundesverfassungsgericht seine Klage zu Bundeshilfen auf den Tisch legt. Sarrazin fordert zum Schuldenabbau 40 Milliarden Euro vom Bund. Dieses Geld könnte ab Anfang 2006 fließen.
„Wenn es optimal läuft, können wir Mitte, Ende 2004 ein Urteil haben“, sagte Sarrazin. Für die Änderung der davon berührten Bundesgesetze rechnet er mit einem weiteren Jahr. Eine Prozessniederlage schloss er aus, „weil die Konsequenzen in ihren Auswirkungen nicht vorstellbar sind“. Der Finanzsenator warnte davor, die Klage als Alternative zu massiven eigenen Berliner Sparmaßnahmen zu betrachten. Ernsthafte Aussichten auf einen Erfolg am Gericht gebe es nur, „wenn im Land alles irgendwie rechtlich Umsetzbare und politisch Zumutbare passiert“.
Der Klage gehen offizelle Verhandlungen mit Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) voran, für die Sarrazin drei bis vier Wochen veranschlagte. Sie gelten als Formsache, weil Eichel bereits eine extreme Haushaltsnotlage bestritten und Hilfe abgelehnt hat. Für Eichel hat Berlin seine Probleme zum Teil selbst verschuldet. „Die Klageschrift wird gegenwärtig vorsorglich vorbereitet“, sagte Sarrazin.
Der Finanzsenator sah das Land „im Wesentlichen unverschuldet“ in die Misere gerutscht. „Natürlich hätte man das eine oder andere anders machen können“, sagte er und nannte Wohnungsbau und Personal. „Darüber zu richten ist aber nicht meine Aufgabe.“
Das Eingeständnis der Notlage setzte Sarrazin mit „Versagen des föderalen Staates“ gleich: Nie hätte es zum drastischen Abbau von Bundeshilfen in den 90er-Jahren kommen dürfen.
Zugleich beschloss der Senat weitere jener einseitigen Maßnahmen, die er nach den gescheiterten Gesprächen mit den Gewerkschaften über einen Solidarpakt angekündigt hatte. Diese Vereinbarung sollte im öffentlichen Dienst ab 2004 jährlich eine halbe Milliarde Euro Personalkosten einsparen. Zu den Ersatzmaßnahmen gehört der gestern beschlossene Ausstieg aus dem für die Landesangestellten zuständigen Arbeitgeberverband zum 31. Januar 2003. Damit will der Senat um Tariferhöhungen herumkommen. Vergangene Woche hatte der Senat bereits beschlossen, aus dem für die Arbeiter zuständigen Verband auszusteigen. Auf die Beamten zielt eine Öffnungsklausel im Bundesbesoldunggesetz, die das Land am Freitag im Bundesrat beantragen will. Für die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sind diese Vorstellungen nicht akzeptabel. Ihr Grundsatzreferent Burkhart Thiemann warf dem Senat gestern „Verbandflucht“ vor. Ver.di werde kommende Woche eigene Vorschläge vorlegen, sagte er der taz. Falls der Senat darauf nicht eingeht, drohte Thiemann mit Streiks: „Uns stehen alle Arbeitskampfmaßnahmen zur Verfüfung.“ STEFAN ALBERTI
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