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Berlin-Wahl: Die ReportageNach der Wahl ist vor der Wahl

Bei Wechselwetter wechseln sich in Berlins Wahllokalen von Neukölln über Mitte und Moabit bis Marzahn die Stamm- und Wechselwähler in munterer Folge ab.

Dieser rot-grüne Wal tauchte im August bei einer Kürbis-Ausstellung in Brandenburg auf. Bild: AP

Sonntag 10 Uhr auf dem Kottbusser Damm zwischen Neukölln und Kreuzberg. Es regnet Bindfäden aus dunkelgrauen Wolken: Das ist Wechselwetter - jedenfalls, wenn man den Berliner ForscherInnen glauben darf, die kürzlich feststellten, dass WählerInnen bei Sonne zu Zufriedenheit mit dem Gegebenen neigen, bei schlechtem Wetter aber alles anders haben wollen.

Wer um diese Zeit schon hier unterwegs ist, gehört zu den Bäckern, Kiosk- und Cafébesitzern, die gerade ihre Läden eröffnen. Die meisten stammen aus der Türkei. Etwa der 38-Jährige, für den mit dieser Wahl eine Veränderung ansteht: Seit 22 Jahren ist er deutscher Staatsbürger. Wählen gehen wird er aber heute zum ersten Mal: "BIG natürlich! Endlich mal jemand, der sich um uns kümmert!" Das von MigrantInnen gegründete "Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit" kommt hier bei vielen gut an. Der ebenfalls aus der Türkei stammenden Bäcker um die Ecke fragt geringschätzig: "BIG - was ist denn das?" Er wird die Piraten wählen - den "Großen" könne man seine Stimme doch nicht mehr geben, meint er.

Vor dem Wahllokal in der Theodor-Storm-Schule im Neuköllner Norden herrscht um 10.15 Uhr bereits reges Kommen und Gehen. Hier sind die Biodeutschen sichtbar in der Mehrheit. Was er wählt, mag hier kaum einer verraten: "Piraten natürlich!", zischt ein junger Mann. "Das verrät sie nicht mal mir!", sagt ein kinderwagenschiebender Vater mit Blick auf seine Frau. Er vermute aber: "Grün!"

Ins Wahllokal im Oberstufenzentrum Banken in Moabit verlieren sich um die gleiche Zeit nur wenige WählerInnen. Sie wähle seit Jahren dasselbe, sagt eine alte Dame: "Mein Entschluss steht schon seit Monaten fest, Wahlkampf hin oder her." Ein junger Vater, der mit seiner Tochter gekommen ist, glaubt, dass es "einen halben Machtwechsel" geben wird: "Wowereit bleibt und regiert mit den Grünen." Gut fände er das - auch wenn ihn der Wahlkampf ziemlich gelangweilt hat. "Man hat ja kaum was mitgekriegt, vor allem keine Inhalte." Euphorie strahlt immerhin der Kantinenwirt aus, der vor der Schule einen Würstchenstand aufgebaut hat. Zur Stärkung des Wahlvolks.

Im nicht weit entfernten Moabiter Wahllokal 314 betritt ein älteres Paar den Raum. Der Wahlbeamte sucht in der Wahlliste nach ihren Wählernummern: "Sieben sechsundneunzig!", liest er vor. Die Frau gräbt in ihrer Handtasche, wird aber nicht fündig: "Tut mir leid, ich habe kein Geld dabei!"

10.55 Uhr: Auf dem Weg an den südlichen Stadtrand sendet das U-Bahn-Fernsehen Aufrufe zur Wahlteilnahme. Der Regen hat aufgehört. Vor dem Wahllokal in der Schule am Fliederbusch herrscht Hochbetrieb, man kennt sich, man grüßt sich. Drei alte Damen kommen untergehakt aus dem Gebäude: CDU habe sie "natürlich" gewählt, sagt die eine: "Wie immer!" Der Henkel sei doch ein sympathischer Mann - "und ein richtiger Berliner!" Das Tuch mit dem Spitzenrand, das sie um den Hals trägt, habe ihre türkische Nachbarin für sie umhäkelt, sagt sie stolz. Auch ihre Freundin hat CDU gewählt: "Hier muss sich doch mal was ändern", sagt sie: Mit "mehr Härte" müsse Berlin regiert werden. Deshalb habe sie im Bezirk Buschkowsky gewählt: "Der macht das schon richtig hier in Neukölln!"

Auch hier in Rudow gehört der Kiosk einem aus der Türkei kommenden Besitzer. Er werde später wählen, sagt der: "Im Wedding, wo ich wohne. Hier kann man doch nicht wohnen", ergänzt er und weist mit dem Kopf Richtung Kreuzung. Nur Plakate von NPD und Pro Deutschland hängen dort an den Masten.

12.30 Uhr, ganz am anderen Ende der Stadt im Marzahner Norden. Auch hier ist das Wahllokal in einer Schule, ein schöner grüner Schulhof zwischen teils unsanierten, teils zu hübschen Drei- bis Sechsgeschossern zurückgebauten Plattenbauten. Wahlplakate sind hier kaum zu sehen. Sie wähle links, "immer", sagt eine Besucherin des Wahllokals resolut. Ihre Tochter und deren Freund lächeln geheimnisvoll: "Grün" würden sie wählen. "Das hätten Sie hier wohl nicht gedacht?" Die beiden sind erst vor Kurzem aus der Innenstadt wieder zurück an den Stadtrand gezogen, "weil es hier billig ist", sagt die junge Frau. "Und grün!", ergänzt ihr Freund.

Zurück in der Innenstadt, diesmal Zentrum Ost, Bezirk Mitte. Auf dem Weg zum Wahllokal in der Waldorfschule Weinmeisterstraße hört man kaum Deutsch, dafür Englisch, Spanisch, Holländisch. Auch das junge Paar, das eben aus dem Wahllokal kommt, unterhält sich in lupenreinem Amerikanisch miteinander. P., aus dem Iran stammender Berliner, erklärt gern, wen er warum wählt: "Inhalte spielen ja gar keine Rolle mehr, da sind sich doch alle Parteien eigentlich gleich." Er wähle deshalb nach Sympathie: "Wowereit, weil er schwul ist. Ich selber bin nicht schwul, aber ich komme aus einem Land, wo man als Schwuler nicht leben kann." Wowereit stehe deshalb für ihn "für diese Stadt, die ich liebe und die meine ist."

Ein paar Meter weiter skandieren ein paar als Clowns verkleidete Protestierende Antiwahlsprüche: "Nach der Wahl ist vor der Wahl ist nach der Wahl!"

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