Berichterstattung über Erdbeben: Das eigene Versagen vertuschen
In der Türkei beginnt die Deutung des Umgangs mit der Katastrophe. Die Regierung geht gegen KritikerInnen vor und sperrt kurzzeitig sogar Twitter.
Wer in der Türkei die Entwicklung im Erdbebengebiet über den staatlichen TV-Sender TRT oder einen der vielen regierungsnahen Fernsehsender verfolgt, muss den Eindruck haben, Gott habe zwar eine schlimme Prüfung geschickt, doch der Präsident tue alles, um die Folgen dieser Prüfung abzumildern. Permanent laufen Bilder von geretteten Menschen über die Mattscheibe, am liebsten sind den ReporterInnen im Katastrophengebiet gerettete Babys und kleine Kinder – gerade in den letzten Tagen, mittlerweile über 130 Stunden nach dem Beben, ist vor allem von wundersamen, geradezu von Allah gelenkten Rettungen die Rede.
Auch wer sich zu Beginn des Bebens gerade noch selbst aus seinem Haus retten konnte, wird in den staatsnahen Medien warmherzig von der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad empfangen. Es gibt Zelte und warmes Essen, manchmal sogar noch ein Geschenk für die Kinder. Gott ist groß und der Präsident kümmert sich, so sieht Recep Tayyip Erdoğan das Bild nach der Katastrophe am liebsten. Und rund 95 Prozent aller Fernsehanstalten in der Türkei liefern ihm dieses Bild auch.
Wer an dieser Propaganda kratzt, bekommt es mit Polizei und Staatsanwalt zu tun. Erdoğan hat bereits zwei Tage nach dem Beben den Ausnahmezustand für alle zehn betroffenen Provinzen verhängt und außerdem gibt es seit November des letzten Jahres das sogenannte Gesetz gegen Desinformation. Auf Grundlage dieses Gesetzes können „Unruhestifter“, also alle, die der offiziellen Propaganda widersprechen, verhaftet und bis zu drei Jahre ins Gefängnis gesteckt werden. Von diesen Möglichkeiten hat die Regierung Erdoğans in den letzten Tagen reichlich gebrauch gemacht.
Zuerst einmal wurde am vergangenen Mittwoch, also am dritten Tag nach dem Beben, als endlich die ersten Bergungstrupps mit ihrer Arbeit begannen, Twitter abgeschaltet. Betroffene in der Katastrophenregion waren darüber besonders erbittert, weil über Twitter zu diesem Zeitpunkt noch Kontakt zu Eingeschlossenen bestand und Hilfsmaßnahmen koordiniert wurden.
„Ist ein über Twitter versandter Standort einer Eingeschlossenen Desinformation?“, beklagte sich einer der Betroffenen gegenüber einer ausländischen Nachrichtenagentur. Die Proteste über die Twitter-Schließung waren so heftig, dass die Regierung in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag Twitter wieder zuließ.
Medien rechnen mit Festnahmen
Dafür hielt man sich dann an die missliebigen Twitter-User. Bis zum Wochenende wurden rund 40 Menschen festgenommen, denen ein Verstoß gegen das Desinformationsgesetz vorgeworfen wird. Darunter auch völlig unpolitische Menschen, die nur den Ernst der Lage vor Ort beklagten. Auch die wenigen noch existierenden Oppositionsmedien wie die beiden Zeitungen Cumhuriyet und Birgün müssen damit rechnen, dass entweder ihre ReporterInnen vor Ort festgenommen werden oder die Polizei in ihren Redaktionsräumen in Istanbul auftaucht.
Das Gleiche gilt für das oppositionelle Internetportal Diken. Sowohl Diken wie auch Birgün hatten am Wochenende berichtet, dass insbesondere in der am stärksten vom Beben betroffenen Region Hatay viele Menschen mittlerweile wegen fehlender Hilfe und grenzenloser Trauer so wütend und frustriert sind, dass sie aufeinander losgehen, syrische Flüchtlinge beschuldigen, ihnen die wenigen Lebensmittel, die in die Region kommen, streitig zu machen und dass wohl auch Plünderer unterwegs seien.
Als Reaktion darauf habe die „Jandarma“, wahllos auf Menschen eingeschlagen, die sie für Plünderer hielt. Statt die Armee in großem Stil für Rettungsmaßnahmen einzusetzen, patrouillieren laut Birgün nun schwerbewaffnete Soldaten durch die zerstörten Straßen in der Provinz Hatay.
Zu viele Menschen warteten vergeblich auf die Rettung
Doch so sehr die Regierung ihr geschöntes Bild der Lage durchzusetzen versucht, die Versäumnisse im Anschluss an das Beben und auch die Versäumnisse bei der Kontrolle von Bautätigkeiten zuvor sind einfach zu groß, um sie unter der Decke halten zu können. Zu viele Menschen haben vergeblich auf Rettung gewartet, zu viele Obdachlose sitzen auch eine Woche nach dem Beben noch ohne jede Notunterkunft in der Kälte, als dass man dem Land erzählen könnte, alles laufe problemlos.
Auch die jetzt begonnene öffentliche Jagd auf kriminelle Bauunternehmer, wird daran nichts ändern. Am Wochenende filmte das Staatsfernsehen propagandistisch perfekt am Flughafen Istanbul die Festnahme eines Bauunternehmers, der für ein kürzlich fertiggestelltes Luxushochhaus in der zerstörten Stadt Antakya verantwortlich ist, das komplett umstürzte, obwohl es angeblich erdbebensicher gebaut war.
Doch auch so wird sich die staatliche Verantwortung für die mangelnde Kontrolle, die den Pfusch am Bau erst möglich gemacht hat, in der Öffentlichkeit kaum noch verwischen lassen. Trotz der öffentlichen Propaganda ist die Mehrheit der Menschen in der Türkei davon überzeugt, dass der AKP-Staat versagt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis