Bericht zu Afghanistan-Einsatz: Ambivalente Empfehlungen für Hochrisikoeinsätze
Die Enquetekommission legt ihren Abschlussbericht zum gescheiterten Afghanistan-Einsatz vor. Das Fazit ist verheerend.
Das geht aus dem Abschlussbericht der Bundestags-Enquetekommission hervor, die über zweieinhalb Jahre beide Themen beackerte, um Schlussfolgerungen für solche Einsätze zu erarbeiten. Am Montag verabschiedeten die 22 Mitglieder der Kommission – zur Hälfte Abgeordnete aller Fraktionen und zur Hälfte Sachverständige wie Schröder – ihren Bericht mit 72 Empfehlungen. Einstimmig übrigens, von den Grünen bis zur AfD, auch wenn alle Fraktionen Sondervoten mit abweichenden Meinungen zu Einzelfragen abgaben.
Die Kommission war sich darüber einig, dass es Auslandseinsätze auch in Zukunft geben wird. Die Zahl der Kriege weltweit, so Schröder, sei seit dem Ende des 2. Weltkriegs nie so hoch gewesen wie jetzt. Deutschland „wird“ dazu weiter seinen Beitrag leisten, heißt es in dem Bericht, wenn wohl auch nicht in dem Umfang wie in Afghanistan. Die Grünen-Abgeordnete Schahina Gambir erklärte: „So wie wir in Afghanistan gescheitert sind, dürfen wir nie wieder scheitern.“
Die Linke, nach ihrer Spaltung in zwei Bundestagsgruppen, war zuletzt nicht mehr vertreten. Man wäre bei ihr wie beim BSW gespannt gewesen, ob sie diesen überraschenden Konsens mitgetragen hätten.
Fehlende „Landeskenntnis und Konfliktverständnis“
Der Konsens resultierte auch daraus, dass sich die Kommission in ihre Empfehlungen um einen konstruktiven Ton bemüht. Eine vernichtende Analyse der deutschen Afghanistan-Politik hatte sie schon im vorigen Februar in einem Zwischenbericht formuliert. „Gemeinsam mit seinen internationalen Partnern“ sei man „strategisch gescheitert“, „gesamtstaatliche Strategiebildung“ und „ressortübergreifende Planung“ seien nicht erkennbar gewesen, sondern in „Ressortegoismen“ zwischen dem federführenden Auswärtigen Amt, Verteidigungs-, Innen- und Entwicklungsministerium untergegangen.
Es habe an „Landeskenntnis und Konfliktverständnis“ gemangelt, obwohl das in der Forschung „durchaus vorhanden“ gewesen sei. Der zivile Wiederaufbau blieb „unterfinanziert“; der Löwenanteil der Mittel floss in den Bundeswehreinsatz, der auch die meiste öffentliche Aufmerksamkeit bekam.
Im Großen mahnt die Kommission für künftige Einsätze eine „tatsächliche Gleichwertigkeit ziviler und militärischer Instrumente“ an. Es müsse eine „kohärente Strategie“ einschließlich „Exit-Strategie“ sowie „klare, überprüfbare und realistische Ziele“ geben. Daran habe es in Afghanistan gemangelt. Militärhistoriker halten mit Clausewitz allerdings dagegen: „Strategie hält so lange, bis der erste Schuss fällt.“ Auch das ist eine Erfahrung aus Afghanistan, wo die besiegt geglaubten Taliban die sich auftürmenden Fehler des Westens nutzten, um zurück an die Macht zu marschieren.
Die Fehler waren in Deutschland nicht zuletzt eine Folge der „ignoranten Absenz von selbst basalstem Sachverstand der gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontexte Afghanistans“ im Zusammenspiel mit „Realitätsverleugnung“ und der „Unfähigkeit zum institutionellen Lernen“. Das schreiben die beiden von den Grünen nominierten sachverständigen Kommissionsmitglieder Katja Mielke und Winfried Nachtwei auf der Webseite des Bonner Konfliktforschungsinstituts BICC.
Braucht es einen Nationalen Sicherheitsrat?
Gambir bemängelt, afghanische Stimmen seien „20 Jahre lang von der Bundesregierung nicht gehört“ worden. Deshalb verlangt die Kommission eine bessere Einbeziehung der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft. Mielke sprach sich für eine „Sonderinitiative“ des Bundesforschungsministeriums aus.
Allerdings habe es weniger an Wissen gefehlt, sondern an „Ehrlichkeit“, so das zweite Grünen-Kommissionsmitglied Philip Krämer. In solch einem Klima gedeiht Schönfärberei. Sie habe über Jahre Politikberatung gemacht, so Mielke am Montag, aber „man ist einfach nicht durchgestoßen“. Deshalb gab es zu Afghanistan „auch nie eine umfassende, unabhängige Evaluierung“. Mit einer „klaren Kommunikation“ der Bundesregierung gegenüber Parlament und Öffentlichkeit soll sich das künftig ändern, verlangt die Kommission.
Anderes hört sich wenig innovativ bis bürokratisch und mitunter sogar blauäugig an. So streiten sich die Parteien, ob der Bundestag mit einem neuen Ausschuss oder nur einem Unterausschuss „seiner Kontrollfunktion besser gerecht werden“ könne, wo künftig Krisenlagebilder zusammengeführt werden sollen und ob dazu ein Nationaler Sicherheitsrat wie in den USA nötig sei.
Letzteres befürworten Union und AfD, während die Grünen das „eher distanziert“ und die SPD vehement ablehnt, weil damit die parlamentarische Kontrolle geschwächt werde. Darauf, dass Deutschland in Krisenstaaten „auf ein gemeinsames Vorgehen der EU setzen“ soll, hätte man eher kommen können und ist angesichts ständiger Europa-Rhetorik ein Armutszeugnis. In Afghanistan bremste Berlin gerade in Menschenrechtsfragen seine EU-Partner eher.
Bundestag selbst überfordert
Und dass Deutschland in Kriseneinsätzen die „Grundnormen der VN-Charta“ wie das „Gebot der friedlichen Streitbeilegung, Verbot von Aggressionen“ sowie „Kollektivmaßnahmen gegen Friedensstörungen“ hochhalten soll, ist löblich. Angesichts der geostrategischen Verschiebungen und rauerer zwischenstaatlicher Sitten könnte man dabei gerade ohne europäische Koordination aber bald auf einsamem Posten stehen.
Selbstkritik wäre im Bericht beinahe nicht aufgetaucht, so Nachtwei, 1994 bis 2009 selbst im Bundestag. Immerhin steht nun dort: Der Bundestag sei mit der Kontrolle des von ihm mandatierten Afghanistan-Einsatzes „insgesamt strukturell überfordert“ gewesen. Laut Nachtwei heiße das „im Klartext, dass das deutsche Parlament mitverantwortlich ist für das Scheitern in Afghanistan.“ Auch er persönlich fühle sich „schuldig“. Der größte Schatten, der für ihn über dem Bericht liege, sei, dass die Aufarbeitung erst umgesetzt wurde, „als das Kind schon in den Brunnen gefallen war“.
Zum Mandat der Kommission gehörte nicht, Lehren für eine künftige deutsche Afghanistanpolitik zu formulieren. Das müsse die künftige Regierung machen, so Michael Müller, der Vorsitzende der Kommission. Er hoffe, dass sie dazu auch zu diesem Bericht greife. Afghanistan bleibe „geostrategisch eine höchstrelevante Region“, so auch der Grüne Krämer.
Seine Partei sieht weiter deutsche „Verantwortung für die afghanische Bevölkerung, besonders für Frauen und Mädchen“ und will dafür humanitäre Hilfe weiter finanzieren. Die SPD will das sogar wieder auf langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausdehnen. Beide Parteien sprechen sich für die Einrichtung eines deutschen Verbindungsbüros in Kabul aus, ausdrücklich unterhalb einer diplomatischen Anerkennung des Taliban-Regimes. Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte könnte daraus schnell ein Abwicklungsbüro für Abschiebungen werden.
Die Grünen wollen sich zudem dafür einsetzen, dass es „auch über diese Legislatur hinaus humanitäre Aufnahmen aus Afghanistan geben“ müsse. Für die CDU hingegen ist laut einem Sondervotum „im Rückblick nicht erkennbar, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ehemaligen afghanischen Regierung oder ehemalige Ortskräfte signifikanten Repressionen oder einer strukturellen Gefährdung aufgrund ihrer vergangenen Tätigkeit ausgesetzt“ gewesen wären. Im Klartext: Unter einer CDU-Regierung arbeiten Ortskräfte künftiger Auslandseinsätze bei Deutschen auf eigenes Risiko. Dabei, so Schröder, sind das „immer Hochrisikoeinsätze, die scheitern können“.
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