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Bericht über Londons PandemiepolitikMit „Gruppendenken“ gegen das Virus

Ein Bericht wirft der britischen Regierung Fehler in der Coronapolitik vor. So sei sie anfangs „fatalistischen“ Wissenschaftlern unkritisch gefolgt.

Die National Covid Memorial Wall in London erinnert an Menschen, die am Coronavirus gestorben sind Foto: Victoria Jones/dpa

Berlin taz | Zwei Parlamentsausschüsse in Großbritannien haben der Regierung von Premierminister Boris Johnson schwere Versäumnisse in der ersten Phase des Kampfes gegen die Covid-19-Pandemie vorgeworfen, dafür aber spätere Erfolge gewürdigt. In ihrer gemeinsamen Untersuchung, deren Ergebnis am Dienstag veröffentlicht wurde, fordern die beiden Unterhausausschüsse für Gesundheit und Wissenschaft zugleich eine breitere, öffentliche Untersuchung.

Die Regierung habe zu Beginn der Pandemie im März 2020 die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung als unausweichlich angesehen, statt sie verhindern zu wollen, und daher zu spät auf radikale Lockdowns und andere Schutzmaßnahmen gesetzt, so der zentrale Vorwurf. „Zusammen mit vielen anderen Ländern in Europa und Nordamerika beging das Vereinigte Königreich einen ernsten frühen Fehler, als es diesen fatalistischen Weg verfolgte und keinen entschlosseneren und rigoroseren Weg zum Stopp der Ausbreitung des Virus wählte wie viele ost- und südostasiatische Länder.“

Anders als damals von Kritikern suggeriert, habe die Regierung Johnsons mit dieser Haltung aber nicht Empfehlungen aus der Wissenschaft ignoriert, sondern umgekehrt diese viel zu unkritisch umgesetzt. „In den ersten drei Monaten entsprach die Strategie der offiziellen wissenschaftlichen Empfehlung an die Regierung, die akzeptiert und umgesetzt wurde“, so der Bericht, der von einem „Gruppendenken“ spricht. Es habe bei Beratungen zwischen Wissenschaftlern und Politikern an „strukturierter Gegenrede“ gefehlt, und bei der Umsetzung von Maßnahmen seien „operationelle Unzulänglichkeiten“ zutage getreten.

„Ein kompletter Lockdown war unvermeidlich und hätte früher kommen müssen“, so der Bericht – das ist nach der Veröffentlichung auf Kritik gestoßen. Auf breite Zustimmung stößt hingegen die bereits in vielen Medienberichten geäußerte Feststellung, man habe zu spät daran gedacht, das Leben der Ältesten zu schützen. Um Krankenhausbetten freizuhalten, wurden nämlich zu Beginn der Pandemie viele ältere Patienten in Pflegeheime überwiesen, oft ohne Covid-19-Tests und ohne Behandlungskapazitäten für Infizierte in den Heimen. Das kostete viele Menschenleben.

Kritik an Testkapazitäten, Lob für die Impfstoffentwicklung

Kritisiert werden mangelnde Testkapazitäten: Großbritannien habe zwar im Januar 2020 als eines der ersten Länder der Welt einen Covid-19-Test entwickelt, dann aber zu lange kein effektives Test- und Nachverfolgungssystem entwickelt. Viel Lob bekommt demgegenüber die rasche Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen, „wesentlich“ durch frühzeitige Staatsinvestitionen ermöglicht, und ihr rascher Einsatz – „eine der effektivsten Initiativen in der Geschichte der britischen Wissenschaft und Verwaltung“.

Die beiden Parlamentsausschüsse werden von Johnson-Kritikern geleitet: Ex-Gesundheitsminister Jeremy Hunt, Johnsons Hauptrivale beim Kampf um die Führung der Konservativen nach dem Rücktritt der Premierministerin Theresa May im Jahr 2019, und Ex-Wirtschaftsminister Greg Clark, den Johnson im Brexit-Streit aus der konservativen Parlamentsfraktion warf. Sie starteten ihre gemeinsame Untersuchung im Oktober 2020. Anhörungen liefen bis Juni 2021.

„Es geht uns nicht um Schuldzuweisungen“, so der Bericht. „Unsere Schlussfolgerungen und Empfehlungen sollen diese und zukünftige Regierungen in die Lage versetzen, sich auf zukünftige Bedrohungen vorzubereiten und den unmittelbaren Umgang mit Covid-19 zu verbessern.“

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3 Kommentare

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  • „Ein kompletter Lockdown war unvermeidlich und hätte früher kommen müssen“



    Mir komplett unklar, wie man darauf kommt. Der komplette Lockdown kam genau deshalb, weil man zu lange so gut wie gar keine Maßnahmen ergriffen hat und dann geschockt war.



    Die britische Regierung ist sowohl an den vielen Toten im Frühjahr 2020 als auch an einem der striktesten Lockdowns Europas schuld. Man hätte durch frühe angemessene Maßnahmen beides vermeiden können. Das war so ziemlich das maximal mögliche Versagen.

    Dieses Jahr dagegen hat die Johnson-Regierung den optimalen Zeitpunkt für die Komplettöffnung abgepasst (nach der WM und zu Anfang der Schulferien) und als erstes Land in Europa die Pandemie damit de facto beendet. Dafür wiederum Hut ab!

    Wer rechtzeitig vor dem Winter öffnet, wird nicht wieder zumachen müssen, das halte ich für sehr wahrscheinlich, da dann der endemische Zustand bis zur normalen Saison der Atemwegserkrankungen erreicht ist. Uns hat leider die Wahltaktik hier einen Strich durch die Rechnung gemacht. Man hat sich vor der Wahl nicht getraut, über die deutlich höher als angenommene Impfquote zu informieren, obwohl diese schon Mitte August relativ offensichtlich war:

    www.tagesschau.de/...-umfragen-101.html

    Wäre das früher bekannt gewesen, wäre kein Argument mehr übrig gewesen, um weitere Maßnahmen über das Winterhalbjahr zu rechtfertigen und das Aufhetzen geimpfter gegen ungeimpfte hätte endlich ein Ende gehabt.

    Schönen Gruß!



    Ein Geimpfter, der für die Rechte aller Eintritt.

    • @Co-Bold:

      Ob das komplette Weglassen der Maßnahmen vor dem Herbst eine gute Idee war, wird sich noch zeigen. Man hat seitdem gut 100 Corona-Tote täglich (mehr als doppelt so viele wie in Deutschland derzeit) und sollten die Fallzahlen im Herbst/Winter deutlich steigen, ist wohl auch ein entsprechend höherer Blutzoll zu erwarten.

      • @Trollator:

        Durch die frühe Öffnung ist dort mittlerweile de facto der endemische Zustand eingetreten, soll heißen, es gibt kaum noch "immunologisch naive" Personen, für die das Virus noch die Gefahr darstellt wie zu Zeiten der Pandemie-Lage.

        Durch die frühe Öffnung dort reduziert sich das im Winter noch vorhandene Potential merklicher Covid-Erkrankungen, das ist eigentlich eine sehr einfache logische Beziehung.

        Es ist eine reine Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit, die in Deutschland mit seiner extrem risikoaversen Bevölkerung dieses Jahr eben nochmal anders getroffen wurde. Leider wurde dies auch mit verursacht durch Fehlprognosen über die Virusausbreitung und zumindest vor der Wahl zeitweise absichtlichem Unter-den-Teppich-Kehren der zu niedrig angegebenen Impfquote.