Bericht eines Opfers der Judenverfolgung: Das andere Tagebuch
Yitskhok Rudashevski starb 15-jährig 1943 im deutsch besetzten Litauen. Sein Tagebuch gibt Zeugnis über die Vernichtung der Juden in Osteuropa ab.
Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wird nicht verblassen, das ist sicher. Doch diese Erinnerung ist bis heute zweigeteilt. Auch wenn inzwischen eine große Zahl wissenschaftlicher Studien über den Holocaust und weitere Massenverbrechen in Osteuropa publiziert worden ist, so bleibt das Gedenken in der Bundesrepublik doch weiterhin primär den mörderischen Taten in Deutschland selbst und in West- und Mitteleuropa verhaftet.
Das Massaker im französischen Oradour-sur-Glane im Juni 1944 ist dafür ein Beispiel, während niemand der Hunderten verbrannter Dörfer in Weißrussland gedenkt. Die Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar und Majdanek auf besetztem polnischen Gebiet sind präsent, Maly Trostinez bei Minsk ist dagegen kaum jemandem ein Begriff.
Yitskhok Rudashevski, „Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Juni 1941 – April 1943“. Herausgegeben und übersetzt von Wolf Kaiser. Metropol Verlag, Berlin 2020, 150 Seiten, 16 Euro
Und natürlich lernt fast jeder Schüler das Amsterdamer Tagebuch der Anne Frank als ein Beispiel für das verzweifelte Leben einer jüdischen Familie im Versteck kennen. Das ist auch gut so.
Aber es gab bisher kein entsprechendes Äquivalent aus den Ghettos in Osteuropa. Jede Erinnerung an die Zeit der Verfolgung und des Mordens ist individuell, jede trägt autobiografische Züge und jedes dieser Zeugnisse unterscheidet sich in der Darstellung der Bedrohung, weil diese oft höchst unterschiedlich ausfiel. Insofern verbietet sich ein Vergleich zwischen diesen hinterlassenen Schriften der Opfer.
Die Mordmaschine
Diese Schriften sind auch deshalb so wichtig, weil sie die unfassbaren Opferzahlen an einem einzelnen Menschen sichtbar machen und weil sie vermitteln können, unter welchen Bedingungen die Verfolgten dahinvegetieren mussten, bis ein großer Teil von ihnen der Mordmaschine der Nazis zum Opfer fiel. Sie vermitteln individuelles Leben und Leiden, das den Leser anders berührt, als wenn er die Eichmann’schen Todesstatistiken studiert.
77 Jahre nach seinem Tod sind nun die Erinnerungen von Yitskhok Rudashevski erstmals in deutscher Sprache erschienen. Sie stammen aus dem Ghetto von Wilna (Vilnius) in Litauen und geben Zeugnis davon ab, was dort geschehen ist. Der Autor hat nicht überlebt, sein Versteck wurde entdeckt, er starb vermutlich Ende 1943 in Ponar, ursprünglich ein naher Ausflugsort, wo die SS in Gruben etwa 80.000 Juden erschoss. Yitskhok Rudashevski ist nur 15 Jahre alt geworden.
Sein Tagebuch setzt 1941 ein, kurz vor der Einrichtung des jüdischen Ghettos durch die Nazis und ihre litauischen Helfer.
Rudashevski schreibt: „Im Haus wird gepackt. Die Frauen laufen hin und her. Sie ringen die Hände beim Anblick des Hauses, das aussieht wie nach einem Pogrom. Ich gehe mit trüben Augen zwischen den Bündeln umher, ich sehe, wie wir über Nacht aus unserem Heim geworfen werden. Bald zeigt sich uns der erste Anblick vom Umzug ins Ghetto, ein Bild aus dem Mittelalter: Eine grau-schwarze Masse läuft wie angeschirrt vor großem Gepäck. Wir verstehen, dass wir bald an der Reihe sein werden.“
Alltag im Ghetto
Yitskhok Rudashevski beschreibt den Alltag im Ghetto, die ständige Suche nach Essbarem, den gefährlichen Schmuggel dorthin, die Kälte und das fehlende Heizmaterial, die Transporte der Todgeweihten, der Kampf um die vorläufig rettenden Arbeitsausweise. Er nennt Namen der verhassten Deutschen, aber spart auch nicht mit Kritik an der jüdischen Ghetto-Polizei, die ihm als unmenschlicher Helfer der Nazis erscheint.
Dabei ist Rudashevski nicht nur ein Chronist des Ghettolebens, sondern auch darum bemüht, den Verfolgungen selbst etwas entgegenzusetzen. Mit seiner Geschichtsgruppe erforscht er die Lebensverhältnisse der eingesperrten Juden. Der Junge ist „Pionier“ einer illegalen kommunistischen Jugendgruppe, er verfolgt atemlos die Offensive der Sowjets, will Widerstand leisten.
Sein Tagebuch sprüht vor intellektuellem Geist. Dies ist kein Junge, der einfach nur das Gesehene niederschreibt. Rudashevski reflektiert über die Geschehnisse, bildet sich Urteile.
Und er verfasst dies in einer sachlichen Art und Weise, die erschaudern lässt: „In meinem alltäglichen Ghettoleben scheint es mir, dass ich normal lebe, aber häufig habe ich tiefe Zweifel. Sicherlich könnte ich besser gelebt haben. Muss ich Tag für Tag dieses vermauerte Ghettotor sehen, muss ich in meinen besten Jahren nur diese eine Gasse sehen, diese wenigen stickigen Höfe?“
In den Trümmern der Häuser
Im September 1943 liquidieren die Nazis das Ghetto von Wilna. Yitskhok Rudashevski und seine Familie gehören zu den wenigen, die sich in den Trümmern der Häuser verstecken können. Am 5. oder 7. Oktober 1943 wird ihr Versteck entdeckt.
Rudashevskis Tagebuch endet schon zuvor, am 7. April 1943. Der letzte Satz lautet: „Uns kann das Schlimmste geschehen.“ Fast alle der 70.000 Juden von Wilna wurden umgebracht.
Eine überlebende Verwandte fand das Tagebuch nach der Befreiung auf dem Dachboden des Hauses, in dem sich Yitskhok Rudashevskis Familie zuletzt versteckt gehalten hatte. Sie übergab es dem Jüdischen Museum in Vilnius. Von dort gelangte es über Umwege in den jungen Staat Israel, wo eine – um die kommunistischen Sympathien des Jungen bereinigte – jiddische Ausgabe 1953 erschien. Es folgten Übersetzungen ins Hebräische, Englische und Französische.
Wolf Kaiser, der Herausgeber der deutschen Ausgabe, hat das Tagebuch mit einem einführenden Vorwort ergänzt und die klugen Anmerkungen zum Text verbessert. Es ist nur ein schmaler Band, leicht zu übersehen, erschienen in einem kleinen Verlag, der zwischen anderen Neuerscheinungen und in der Coronapandemie unterzugehen droht.
Lest Yitskhok Rudashevski! Bringt es in die Schulklassen, stellt es in die Schaufenster der Buchhandlungen. Erinnert euch daran, was zwischen 1941 und 1943 in Wilna geschehen ist.
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