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Belagerte Gebiete in SyrienBerichte über Angriff auf Klinik in Afrin

Die Kämpfe in Syrien führen erneut zu einer massiven Flucht von Zivilisten. In Ost-Ghuta kam es zu Luftschlägen, nachdem Rebellen verlorenes Gebiet zurückeroberten.

Viele Zivilisten flüchten vor den Kriegshandlungen in und um Afrin Foto: dpa

Damaskus/istanbul/göttingen dpa/rtr/epd | Wegen der anhaltenden Angriffe auf die belagerten Gebiete Afrin und Ost-Ghuta in Syrien sind erneut tausende Menschen aus den heftig umkämpften Gegenden geflohen. Sowohl die türkische Armee und ihre Verbündeten, als auch die syrische Regierung und Russland setzten am Freitag ihre Angriffe fort. Nach Angaben von Beobachtern und Aktivisten wurden dabei weit mehr als 100 Zivilisten getötet.

Nachdem am Tag zuvor bereits mehr als 13. 000 Zivilisten aus dem Rebellengebiet Ost-Ghuta nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus geflohen waren, hätten am Freitagmorgen erneut knapp 2.000 Menschen das Gebiet verlassen, teilte das russische Außenministerium mit. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach sogar von knapp 20 .000 Menschen, die Ost-Ghuta zuvor verlassen hatten.

UN-Generalsekretär António Guterres äußerte sich besorgt über die neuen Entwicklungen. Die Verzweiflung dieser Menschen sorge ihn sehr, sagte Guterres am Freitag. Er bedauere sehr, dass die vom UN-Sicherheitsrat geforderte Waffenruhe nach wie vor nicht umgesetzt sei.

Der UN-Sonderbeauftragte Staffan de Mistura warnte davor, die Waffenruhe als „Wahlmenü“ anzusehen. Sie könne nicht nur stückweise umgesetzt werden, sagte de Mistura, per Video aus Brüssel zugeschaltet, am Freitag dem Sicherheitsrat in New York.

Vier Raketen auf einen Markt

Nach Angaben der Beobachtungsstelle setzte Russland nach der Massenflucht seine Luftangriffe auf Ost-Ghuta fort. Dabei seien am Freitag insgesamt mindestens 79 Zivilisten getötet worden. Aktivisten aus Ost-Ghuta berichteten der Deutschen Presse-Agentur, dass Kampfjets vier Raketen auf einen Markt abgefeuert hätten. „Überall hat es gebrannt, Menschen liefen teilweise brennend herum und schrien“, sagte der Aktivist Abu Ahed.

Die Angriffe erfolgten, nachdem es Rebellen der Gruppe Failak al-Rahman gelungen war, verlorenes Gebiet von syrischen Regierungstruppen zurückzuerobern. Allein in Ost-Ghuta seien nach Schätzungen der Menschenrechtsbeobachter mit Sitz in Großbritannien knapp 2 .000 Menschen in den vergangenen Wochen getötet worden.

Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, kritisierte nach einem Besuch in Ost-Ghuta den anhaltenden Bruch internationalen Menschenrechts. Dazu zählte er „Belagerungen, Blockaden, unverhältnismäßige Attacken in städtischem Gebiet und der gezielte Angriff auf Zivilisten“.

Türkei dementiert Beschuss von Klinik in Afrin

In der kurdischen Stadt Afrin in Nordsyrien wurde nach Berichten eines Arztes, der Kurdenmiliz YPG und der Beobachtungsstelle das größte Krankenhaus von türkischen Granaten getroffen. Mindestens 16 Menschen seien getötet und Dutzende andere verletzt worden, sagte Doktor Joan Schitika am Freitagabend der Deutschen Presse-Agentur per Nachrichtendienst WhatsApp.

Das türkische Militär weist jedoch den Vorwurf zurück, bei seiner Militäroffensive gegen Kurdenmilizen in der syrischen Region Afrin die Klinik attackiert zu haben. Das Militär führe seine Schläge so, dass Zivilisten nicht zu Schaden kämen, erklärte die Armee am Samstag über Twitter.

Das Militär führe seine Schläge so, dass Zivilisten nicht zu Schaden kämen, erklärte die Armee am Samstag über Twitter

„Das Krankenhaus wurde von mehreren türkischen Granaten getroffen“, erklärte dagegen der Arzt. „Zivilisten werden sogar in Krankenhäusern angegriffen, und Afrin wird wahllos mit Tausenden Granaten beschossen.“ Zuvor war bereits von 27 getöteten Zivilisten berichtet worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Inzwischen haben Menschenrechtler die deutsche Bundesregierung und die Nato zum Handeln aufgerufen. Deutschland und die Nato-Staaten müssten ein sofortiges Ende der Kriegsverbrechen ihres Nato-Partners Türkei verlangen, forderte die Gesellschaft für bedrohte Völker am Samstag in Göttingen. „Es kann nicht sein, dass die Nato die Aushöhlung des humanitären Völkerrechts fördert, das ausdrücklich den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten vorsieht“, erklärte der Direktor der Organisation, Ulrich Delius.

Die Massenflucht von Zivilisten ging angesichts heftiger Kämpfe am Freitag weiter. Seit Mitternacht seien mehr als 2.500 Zivilisten geflohen, berichtete die Beobachtungsstelle, die ihre Informationen von einem breiten Netzwerk an Informanten in Syrien bezieht, am Freitag. Damit habe sich die Zahl der Geflohenen in den vergangenen Tagen auf mehr als 35 .000 alleine in Afrin erhöht. Die meisten Menschen seien in Richtung der weiter entfernt liegenden Orte Nubul und Sahra geflohen.

Flugblätter über der Stadt abgeworfen

Afrin steht seit Beginn der Woche praktisch unter Belagerung von türkischen Truppen und mit ihnen verbündeten Rebellen. Das türkische Militär warf am Freitag Flugblätter über der Stadt ab und warnte die Bewohner, sich von „Terroristen“ fernzuhalten. Die Zettel riefen dazu auf, „der türkischen Armee zu vertrauen“ und den „Schutz des türkischen Militärs“ zu suchen. Seit dem 20. Januar geht die Türkei zusammen mit Verbündeten gegen die kurdischen Volksschutzeinheiten YPG in Afrin vor. Sie sieht in den Einheiten einen verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in Syrien.

Russland, der Iran und die Türkei, die sich selbst als Garantiemächte für die Überwachung eines Waffenstillstands in Syrien sehen, haben sich zufrieden mit der Entwicklung in dem Land gezeigt. Besonders die gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus seien hervorzuheben, hieß es am Freitag in einer gemeinsamen Erklärung, die das kasachische Außenministerium nach einem Treffen der Konfliktparteien in Astana verbreitete. Darin drückten die Außenminister zugleich ihre Sorge über andauernde Verletzungen der Feuerpause aus.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu rief in Astana zu verstärkten Bemühungen der Türkei, Russlands und des Irans für die Durchsetzung eines Waffenstillstands in Syrien auf. „Wir glauben, dass die Garantiemächte ihre gemeinsamen Bemühungen verstärken müssen, damit die Verstöße gegen den Waffenstillstand beendet, Zivilisten geschützt werden und die Lieferung von humanitärer Hilfe gewährleistet wird.“ Die Türkei bestreitet, dass bei ihren Angriffen Zivilisten getötet wurden.

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4 Kommentare

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  • Es wäre Zeit nun über die Lügen aufzuklären. Die Türkei behauptet, das Krankenhaus wäre nie angegriffen worden. Als "Beweis" wurde ein Drohenvideo gezeigt, auf welchem man auf kurdischer Seite dann aber Angriffsschäden erkennen wollte.

    Die Türkei hat die Kurden beschuldigt, die Bevölkerung als Schutzschild zu missbrauchen, so wie die FSA und der IS das machen. Die YPG hat die Bevölkerung jedoch fliehen lassen - wie jetzt allgemein berichtet wird. Trotzdem hat die UN dieses Verhalten verurteilt. Einzelne Berichte haben ergeben, dass die FSA Schutzgelder von fliehenden Kurden verlangt haben. Die Türkei betont, das wären YPG-Leute gewesen. Auch hier wäre es Zeit, die Wahrheit festzustellen. Denn wenn jedem beliebig Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden und niemand mehr untersucht, was wirklich war, dann verlieren Menschenrechte ihre Bedeutung.

  • Zitat:" Die Angriffe erfolgten, nachdem es Rebellen der Gruppe Failak al-Rahman gelungen war, verlorenes Gebiet von syrischen Regierungstruppen zurückzuerobern" - wieder einmal MÄRCHENSTUNDE !? (bei der taz) wie zb "400 000 (unbeteiligte) zivilisten" - niemand hat fluchtbedarf (sagen die "rebellen) - aber es ist ein ende (oder alternativ DAS ENDE) in sicht- gut so

  • Die Türkei ist ein NATO-Mitglied, ausgerüstet mit Waffen parallel zur deutschen Bundeswehr. Wenn in Afrin jetzt KurdInnen und SyrerInnen sterben, dann wahrscheinlich mit einer guten Portion NATO-Herstellung.

     

    Und es ist gut, dass die taz hier vorsichtig die Lage beschreiben will, aber in sozialen Netzwerken sind Videos, in denen Menschen, darunter Frauen und Kinder auf der Erde unbewaffnet und regelrecht hingerichtet liegen, mehrfach abrufbar. Fälschungen kann man nicht immer ausschließen, aber viel wahrscheinlicher ist doch, dass es tatsächlich dort so zugeht.

     

    Im französischen Parlament und sogar im britischen Unterhaus wird über Afrin vollkommen anders debattiert als in Deutschland.

     

    Der ehemalige frz. Präsident Francois Hollande ist sogar wegen Syrien / Afrin an die Öffentlichkeit getreten und hat härtere Maßnahmen sowohl gegen die Türkei als auch gegen Assad und Russland gefordert. Das scheint mir kein Schnellschuß gewesen zu sein, sondern solange eine Reaktion speziell aus Berlin ausbleibt, wird die syrische Tragödie weitergehen, in Afrin steht ein Völkermord an, zumal hier ganz offenbar die Kräfte wieder nach Syrien gelangen, die bereits bei Nusra, IS und anderen islamistisch-jihadistischen Gruppen gekämpft haben. Sollten diese Kräfte wieder Gebiete unter ihre Kontrolle bekommen, werden sie KurdINnen abschlachten als SexklavInnen verkaufen und auch sonst eine beispiellose Terrorherrschaft errichten. Ich finde es interessant, dass die Türkei von einem Anti-Terrorkrieg spricht - wer schafft hier Terror? Und wer hält sich an internationales Recht?

    P.S. Und über was haben Merkel und Erdogan letztlich telefoniert? Nach türk. Medienberichten über den Anti-Terrorkrieg, das würde ja bedeuten, dass Deutschland Erdogan in seinem Vorgehen unterstützt.

  • 8G
    81622 (Profil gelöscht)

    Seit 2014 finanziert das AA, mittels Malteser International (MI), ein Feldkrankenhaus in „Bab Al Salam“, einem Flüchtlingslager auf syrischer Seite bei Kilis. Das Projekt wird von einer syrischen NRO geleitet, die in großer Nähe zur AKP, der FSA, sowie den türkischen Besatzungsbehörden steht. Seitdem die Türkei das Gebiet besetzt hält, steht das Krhs. unter direkter türkischer Kontrolle, da sämtlicher Institutionen im Besatzungsgebiet gleichgeschaltet sind. Von einem unabhängigen humanitären Handlungsspielraum kann daher nicht mehr die Rede sein. Seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Afrin, unterstützt das Krhs. zudem medizinisch mit Ambulanzservice und Behandlung vor allem die sog. „FSA“-Kämpfer die jetzt als Söldner der türkischen Armee im Angriffskrieg auf Afrin dienen.

    Auf Nachfrage bei MI und der Abt. für Humanitäre Hilfe des AA, ob die Neutralität des Projekts noch garantiert sei, wird der o.g. Sachverhalt geleugnet und mit allgemeinen Behandlungszahlen des letzten Jahres geantwortet. Das Krankenhaus in Bab Al Salam scheint aber zur Kriegspartei geworden zu sein, da die medizinische Versorgung im Kriegsfall in die militärische Planung eingeht. Damit werden humanitäre Hilfsgelder missbraucht. Dies widerspricht zudem aber dem humanitären Prinzip der Neutralität. MI hat zudem den „Code of Conduct“ unterschrieben, der unter Punkt 3 und 4 besagt, dass:

    •Die Hilfe wird nicht zur Unterstützung eines bestimmten politischen oder religiösen Standpunktes eingesetzt wird

    •Wir sind bestrebt, uns nicht für die außenpolitischen Interessen einer Regierung instrumentalisieren zu lassen

    In sofern ist MI und das AA dafür verantwortlich, was in einem von der deutschen Humanitären Hilfe finanzierten Projekt passiert und ob damit ein Angriffskrieg gegen die Kurden, logistisch und medizinisch unterstützt wird. Die Bombardierung des Krhs. in Afrin, zeigt die Mitverantwortung von MI und AA für die Rolle des 10 km entfernt gelegenen Bab Al Salam Krhs.