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Behandlung von FrühchenKrankenhaus-Roulette im Norden

Klinik Itzehoe muss die Versorgung von sehr kleinen Frühgeborenen einstellen, weil sie zu wenig Fälle behandelt. Ähnliche Häuser dürfen weitermachen.

Braucht viel Fachkunde: Betreuung eines Frühgeborenen Foto: Guido Kirchner/dpa

Hamburg taz | Es ist womöglich das Aus für die Frühchenstation in Itzehoe: Die Krankenkassen haben dem Klinikum Itzehoe Anfang des Jahres mitgeteilt, die Kosten für geplante Frühgeburten in der Gewichtsklasse bis 1.250 Gramm Geburtsgewicht nicht mehr zu übernehmen. Die Begründung lautet grob gesagt: Sie behandeln zu wenige.

Denn ab diesem Jahr gilt eine neue Mindestmenge. Diese legt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) fest. 25 Frühgeborene unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht pro Jahr müsste Itzehoe nun behandeln – das ist nicht mehr einzuhalten. Zuvor waren es 20, auch das hat das Krankenhaus nicht einhalten können.

Von Juli 2022 bis Juli 2023 gab es in Itzehoe nur acht Frühgeburten in dieser Gewichtsklasse, noch weniger als im vorigen Berechnungsjahr. „Wir haben aber insgesamt eine steigende Gesamtgeburtenzahl“, sagt Georg Hille­brand, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Bei solch kleinen Zahlen spiele auch der Zufall eine Rolle, sagt er, und verweist auf die stabilen Frühgeborenenzahlen der Jahre zuvor.

Die Klinik stellte für das Jahr 2024 deshalb eine positive Prognose auf und gab an, die Mindestmengen anzustreben. Die Krankenkassen glaubten diese Prognose dem Klinikum jedoch nicht. Vor drei Monaten informierte der Verband der Ersatzkassen VDEK die Klinik darüber, dass sie ab diesem Jahr Frühgeburten unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht nicht mehr abrechnen darf, sofern es keine Notfälle sind.

Klage vorm Sozialgericht

Nun klagt die Klinik vor dem Sozialgericht Itzehoe gegen den Bescheid und die in ihren Augen fehlende Begründung. „Wir glauben, dass unsere Prognose gültig ist und nicht korrekt widerlegt wurde“, sagt Hillebrand.

Denn es geht bei der Entscheidung der Krankenkassen nicht nur um harte Zahlen. Falls das so wäre, hieße das in Schleswig-Holstein für drei von fünf Perinatalzentren das Aus. Denn auch Heide und Flensburg verfehlen die Mindestmengen seit Jahren.

Die Krankenkassen haben aber die Macht, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Wenn das zuständige Bundesland die Versorgungssicherheit gefährdet sieht, kann es einen solchen Antrag bei den Krankenkassen stellen. Das sei passiert, sagt Christian Kohl, Sprecher des Ministeriums für Justiz und Gesundheit Schleswig-Holstein. Entscheiden können die Länder eine Ausnahme „jedoch nicht allein, sondern im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen“, so schreibt es der Gesetzgeber vor.

Auch die Krankenkassen, sagt Hillebrand, haben letztendlich gegen den Willen der Landesregierung entschieden und genehmigten nur den Perinatalzentren in Heide und Flensburg eine Ausnahme. Diese Zentren kamen im vergangenen Berechnungszeitraum auf 18 beziehungsweise 13 Fälle. Itzehoe ging in diesem Jahr leer aus. Warum, ist unklar. Über die Gründe schweigt der VDEK gegenüber der taz und beruft sich auf das laufende Gerichtsverfahren.

Wir haben hier das Equipment und das Personal, also haben wir uns entschieden, erst mal weiterzumachen

Georg Hillebrand, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Itzehoe

Von außen sind die Gründe schwer nachzuvollziehen. Finanziell macht es für die Krankenkassen auf den ersten Blick keinen Unterschied, ob ein Frühchen in der Universitätsklinik Kiel oder in Itzehoe abgerechnet wird. Frühchen werden pro Fall pauschal abgerechnet. Wenn es in einer Klinik weniger Frühgeburten gibt, trägt nur die Klinik das finanzielle Risiko.

Grundsätzlich setzen sich die Krankenkassen jedoch schon seit Jahren und auch in Bezug auf die Krankenhausreform für mehr Zentralisierung und Spezialisierung ein, auch, um die Effizienz zu erhöhen. Die Krankenhausdichte sei zu hoch, heißt es. Erhöhungen der Mindestmengen bieten sich an, um kleinere Kliniken zu schließen, und das mit höherer Behandlungsqualität zu begründen. Im G-BA, der die Mindestmengen festlegt, kommen acht von 13 Mitgliedern aus Krankenkassenverbänden oder Kassenärztlichen Bundesvereinigungen. Die meisten Mitglieder im G-BA kommen daher aus kassenärztlichen Interessensvertretungen.

Wie viele kleine Frühchen eine Klinik behandeln muss, um genug Erfahrung für ausgezeichnete Versorgung zu haben, darüber streiten Ex­per­t*in­nen allerdings seit der Einführung 2009. Damals wurden 14 Frühchen unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht pro Jahr als Mindestmenge festgelegt. Der G-BA argumentiert, dass Mindestmengen Erfahrung bündeln, die Qualität steigern und sozusagen „Exzellenzzentren“ herausbilden.

Der Verband Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands veröffentlichte vor Kurzem ein Positionspapier, in dem er darauf verweist, dass erst ab 100 Fällen die Überlebenschance von Frühgeborenen wirklich steigt – und damit die Erhöhung auf 25 Fälle pro Jahr kaum einen Qualitätsunterschied macht. Andere Forschung kommt zu dem Schluss, dass Ergebnisqualität und Fallzahl nicht per se zusammenhängen.

Klinikdirektor Hillebrand will, dass deshalb auch andere Faktoren als die Mindestmengen in die Entscheidung einbezogen werden. Die Vergleichsdaten des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen sprechen tatsächlich für Itzehoe. Was das Überleben von Frühgeborenen angeht, liegt Itzehoe über dem Durchschnitt, anders als Heide und Flensburg. „Wir haben uns hier bewusst spezialisiert“, sagt Hillebrand.

Präzedenzfall möglich

Wie schlimm sich die Schließung der Frühchenstation für die Versorgung von Schwangeren in Schleswig-Holstein darstellt, ist letztlich schwer zu sagen – vor allem langfristig. Ministeriumssprecher Kohl schreibt, dass laut einer Versorgungsbedarfsanalyse „vier Perinatalzentren Level 1 in SH den Wegfall eines Hauses kompensieren könnten, wenngleich der Wegfall vom Gesundheitsministerium nicht befürwortet wird“.

Da allerdings auch Heide und Flensburg die Mindestmengen nicht erreichen, könnten die Krankenkassen in Zukunft auch diesen Kliniken die Ausnahmegenehmigung verweigern. Die Level-1-Versorgung Schleswig-Holsteins wäre dann nur noch in den Unikliniken Kiel und Lübeck gewährleistet.

Sollte das Sozialgericht im Klageverfahren zugunsten des Klinikums entscheiden, wäre ein Präzedenzfall geschaffen, auf den sich auch andere kleinere Kliniken berufen könnten. Die Entscheidung wird nach Auskunft des Gerichts allerdings noch dauern.

Deshalb läuft ein Eilverfahren, in dem eigentlich schon im Februar entschieden werden sollte, ob Itzehoe bis zum Abschluss des Klageverfahrens erst mal weiter Frühchen behandeln darf. Noch hat das Gericht nichts entschieden. „Wir haben hier das Equipment und das Personal, also haben wir entschieden, erst mal weiterzumachen“, sagt Hillebrand – und hofft, dass die Krankenkassen erst mal auch weiter zahlen.

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