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Begegnung im ZugDie verpasste Chance

Was meine ehemalige Lehrerin über die Arbeit der Medien sagte, war Unsinn. Ich hätte widersprechen müssen. Aber die alten Muster griffen zu stark.

Nicht immer einfach: Einspruch zu erheben, vor allem gegen ehemalige Autoritätspersonen Foto: dpa / Marijan Murat

M anchmal greift die Vergangenheit wie ein langer Arm ins Jetzt. Als ich während der Feiertage an meiner alten Schule vorbeifuhr, musste ich an eine Begegnung im Zug denken: Ich war auf dem Weg nach Dresden gewesen, der Zug fuhr weiter bis nach Tschechien. Es war ein Zug mit alten Sechser-Abteilen, an denen ein langer Gang vorbeiführt. Ich schaute durch das Gangfenster und da kam sie plötzlich, die Vergangenheit: meine frühere Englischlehrerin. 16 Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Sie ging an mir vorbei, so wie sie früher bei den Klausuren an den Tischen vorbeigegangen war. Ein Bild wie in einem Traum. Sie musste jetzt in Rente sein.

Ich hatte den Impuls aufzuspringen, ihr hinterherzulaufen. Dann kam das Zögern. Ob sie mich überhaupt erkennen würde? Später, auf dem Weg zur Toilette, als ich sie wieder sah in ihrem Abteil, war der Zufall zu groß für Zweifel. Jahrelang hatte die Lehrerin meinen Alltag mitgeprägt, war ihre Bewertung wichtig gewesen, ihr Unterricht. Merkwürdig, sie jetzt zu sehen.

Ich klopfte an ihre Abteiltür. Sie schaute hoch. Ich stellte mich vor. Doch meine Befürchtung wurde wahr: Da war kein Erinnern in ihren Augen. Ich nannte meinen Abiturjahrgang, versuchte meine Existenz in ihrem Früher zu beweisen. Die anderen im Abteil schauten mich alle an. Ein Mann bot mir sogar seinen Sitz an.

„Was haben wir denn gelesen“, fragte die Lehrerin, als würden damit alle Rätsel gelöst. Ja, was hatten wir gelesen? Ich konnte mich an nichts erinnern. Die Frage genügte, um in alte Rollen zu gleiten: Sie war die Lehrerin. Ich die Schülerin. Versunken schaute mich die Lehrerin an. „Es ist lange her, dass ich einen Schüler getroffen habe“, sagte sie. „Wie hat Ihnen denn mein Unterricht gefallen?“

Bild: privat
Christa Pfafferott

ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

„Gut“, sagte ich.

Und da kam es: „Ah ja, ich erinnere mich. Was machen Sie denn jetzt?“

Die Frage genügte, um in alte Rollen zu gleiten: Sie war die Lehrerin. Ich die Schülerin

Ich erzählte, dass ich als Autorin und Journalistin arbeite.

„Sie wählen also Mitte-Links“, sagte sie sofort.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ja, so ist das doch bei den Medien.“

Dann sagte sie, dass man den etablierten Medien ja nicht vertrauen könne. Sie nannte eine Partei, die dies ebenso vertrat und ihrer Meinung nach den Menschen ihre Angst nehme.

Ich erschrak. Sie, die Lehrerin, die mir Sprache vermittelt hatte, sie stellte den journalistischen Beruf infrage? Ich war nicht darauf vorbereitet zu diskutieren, nicht in dieser Situation und Konstellation. „Ich gehe dann mal wieder“, sagte ich mit Blick ins Abteil, in das ich hineingeplatzt war.

Etwas Düsteres schob sich in meine Gedanken. Ich war schon vorher Menschen begegnet, die den Medien nicht mehr vertrauen. Jetzt gehörte sogar meine Lehrerin dazu.

Ich dachte daran, was ich ihr hätte sagen wollen: Ich sorge mich, dass das Vertrauen in die Medien gefährdet ist, in die vierte Säule der Demokratie. Ich bin stolz darauf, in meinem Beruf ausgebildet zu sein und ihn auszuüben. Ich habe in vielen Redaktionen gearbeitet und erfahren, wie Menschen dort um Ambivalenzen und Details ringen, die Wirklichkeit hinterfragen und versuchen, ihr gerecht zu werden. Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem eine freie Presse die Demokratie sichert. In dem die Meinungsfreiheit Demonstrationen verschiedener Überzeugungen erlaubt.

Doch es war zu spät. Mein Halt kam. Ich stieg aus. Das Gefühl eines Versäumnisses hing wie ein kalter Umhang um mich. Auch wenn die Situation herausfordernd war. Auch wenn ich sie nicht überzeugen würde, es wäre wichtig gewesen, ihr von meiner Haltung zu erzählen. In dieser Zeit, in der Wahrheiten auseinanderdriften, wird es immer mehr politisch, wie wir uns im Privaten verhalten. Es gibt keine perfekte Konstellation für das Aussprechen einer Meinung. Wenn ich nicht einverstanden bin, muss ich das benennen.

Seitdem erzähle ich Leuten, die sagen, dass sie Medien nicht mehr vertrauen, von meinem Beruf, von den Erfahrungen.

Mich bewegt das bis heute. Wie meine Lehrerin aus dem Nichts auftauchte, und ich noch einmal etwas Grundsätzliches lernte.

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3 Kommentare

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  • "Ich sorge mich, dass das Vertrauen in die Medien gefährdet ist, in die vierte Säule der Demokratie. Ich bin stolz darauf, in meinem Beruf ausgebildet zu sein und ihn auszuüben."



    Hmm, diese Haltung ist verständlich, in ihr liegt aber auch eine gewisse Gefahr der moralischen Selbstüberschätzung: Mit dem Eigenetikett "Vierte Gewalt" möchten sich manche Medienvertreter - so der Eindruck - am liebsten auf der Sänfte ins Grundgesetz hineintragen lassen.



    Journalismus ist ein verantwortungsvoller Beruf - nicht mehr und nicht weniger.

  • Zitat: „Mich bewegt das bis heute. Wie meine Lehrerin aus dem Nichts auftauchte, und ich noch einmal etwas Grundsätzliches lernte.“

    Schade um die verpasste Chance. Es wäre schön gewesen, wenn auch die Ex-Lehrerin noch etwas hätte lernen können auf ihre alten Tage. Aber womöglich hätte sie das ja gar nicht gekonnt. Schließlich haben nicht nur Schüler-Gehirne ihre Grenzen.

    Nur wirklich gute Lehrer können von ihren (Ex-)Schülern etwas lernen. Die ganz besonders guten lernen sogar von den besonders schlechten Schülern, wie sie noch etwas besser werden können. Schlechte Lehrer hingegen können nicht einmal von guten Schülern etwas lernen. So wenig, wie schlechte Schüler etwas lernen können von Lehrern, die nicht wirklich gut sind. Weil beide überzeugt sind, dass es einfach nicht lohnt.

    Manche Lehrer stecken zu sehr in ihrer Uralt-Rolle fest, vermute ich. Sie haben Angst, sich einen Zacken aus ihrer mühevoll genug erworbenen Krone zu brechen, wenn sie nicht mehr top-down Absolut-Wahrheiten verkünden dürfen, sondern sich selber hinterfragen sollen. Dagegen hilft dann auch kein IQ > 130. Angst essen Hirn auf, nicht nur die Seele.

    Übrigens: Was für die Lehrer gilt, gilt genau so auch für Medienschaffende. Es gibt solche und solche und dann gibt es noch die, die völlig anders sind. Manche verstehen, dass es bei der Medien-Berichterstattung nicht ausschließlich um ihre privaten Befindlichkeiten und/oder ihr Sendungsbewusstsein gehen sollte, und manche kapieren es bis zum Schluss nicht. Manche begreifen, dass es nicht unbedingt gut sein muss, wenn sie es schaffen, einer Mehrheit aller Leser und Zuhörer die Überzeugung einzuimpfen, aus einer Hand voll Texte ließe sich ein Wahlverhalten ableiten, und manche fragen sich auch noch als 70-Jährige, was schlecht sein sollte an der permanenten Vermischung von persönlicher Meinung und sachlicher Information. 🤷

  • Eindrückliche Schilderung, vielen Dank dafür!