Bayern hält an der Hauptschule fest: Schweigen im Schulhaus
Die eine Schule ist gut ausgestattet und gut besucht, die andere kriegt trotz guter Ausstattung keine Klassen zustande. Das bayerische Hauptschulkonzept geht nicht auf.
EICHSTÄTT / HELMSTADT / MÜNCHEN taz | Wenn Johann Donaubauer über seine Schule spricht, dann schwärmt er, so ausdauernd und überschwänglich, dass man Zweifel bekommt, ob hier alles mit rechten Dingen zugeht. Donaubauer ist Leiter der Hauptschule im oberbayerischen Eichstätt. Er steht damit einer Bildungseinrichtung vor, die in Deutschland mitunter als Restschule, mindestens aber als Problemfall gilt.
Seit Jahren sinkt die Schülerzahl in Deutschland, weil immer weniger Kinder zur Welt kommen. Besonders die Hauptschulen haben unter diesem Phänomen zu leiden. Viele Eltern glauben nicht mehr daran, dass ihre Kinder mit einem Hauptschulabschluss gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Die bundesweiten Zahlen geben ihnen Recht: Die Hälfte aller Hauptschüler landete 2008 im Übergangssystem, nur 40 Prozent fanden eine Lehrstelle.
Die meisten Bundesländer haben auf diese Entwicklung reagiert und neben dem Gymnasium Gemeinschaftsschulen etabliert, an denen die SchülerInnen länger zusammen lernen, bevor sie sich für einen Abschluss entscheiden. Selbst die CDU, die lange am dreigliedrigen Schulsystem festhielt, hat im November ein bildungspolitisches Papier verabschiedet, das die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule favorisiert. Nur Bayern hält als einziges Bundesland uneingeschränkt am Konzept der Hauptschule fest. Fragt man beim bayerischen Kultusministerium nach, warum das so ist, landet man in Eichstätt.
Volle Auslastung
"In Bayern besuchen noch immer 30 Prozent der Schüler die Haupt- oder Mittelschule, wie sie seit dem Schuljahr 2010/11 heißt", sagt Schulleiter Johann Donaubauer vergnügt und blinzelt aus kleinen, wachen Augen hinter seiner Brille hervor. "Das liegt an der Regionalstruktur des Bundeslandes." Im ländlichen Bereich hätten handwerkliche Berufe noch Vorrang, zählt er auf, die Familien seien ortsgebunden und bodenständig.
Der Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist gering. Dass die Hauptschule unter einem schlechten Ruf zu leiden habe, könne er nicht feststellen. Im Gegenteil: "Wir haben sogar Schüler, die von den Leistungen her auf die Realschule gehen könnten, die aber lieber hier bleiben, weil es ihnen bei uns so gut gefällt." Der viel beschworene Schülermangel? Fehlanzeige: "Mit 561 Schülern sind wir voll im Haus."
Bereits 2006 wurde die Mittelschule Eichstätt-Schottenau in einem Pilotprojekt zur sogenannten Profilschule umgestaltet. Seither bekommen die SchülerInnen ab der 7. Klasse zusätzlich zu den Kernfächern eine praxisorientierte und berufsvorbereitende Ausbildung in den Bereichen Technik, Wirtschaft und Soziales. Nachmittags gibt es Sport- und Freizeitangebote sowie Hausaufgabenbetreuung, und alle SchülerInnen leisten Praktika in Betrieben. Wer einen Notendurchschnitt von 2,66 erreicht, oder eine Prüfung besteht, kann im sogenannten M-Zug noch ein Jahr dranhängen und verlässt die Schule mit einem Abschluss, der dem der Realschule gleicht.
Es ist später Nachmittag in der Bischofsstadt Eichstätt. Schüler sind in der Mittelschule nirgendwo mehr zusehen, dafür aber ein Dutzend Handwerker, denn der Siebzigerjahrebau mit Sportanlage und Hallenbad wird bis 2013 auf Kosten der prosperierenden Gemeinde generalsaniert. Im ersten Stock bittet Donaubauer in eines der fertig gestellten Klassenzimmer. Enthusiastisch wie ein kleiner Junge, der seine Modelleisenbahn präsentiert, zeigt er die Technik, mit der jeder Raum ausgestattet wird: Statt Tafeln gibt es "Smartboards", die mit dem Computer gekoppelt und mit einem elektronischen Stift beschrieben werden können.
Nicht alle schwärmen von der Hauptschule
Tischkameras projizieren Arbeitsblätter an die Tafel. "Die neuen Räume machen viel aus", sagt Donaubauer. Aber die Schüler selbst seien der Grund für seinen Erfolg. "Unsere Kinder sind mucksmäuschen still", sagt er. "So still, dass sich einmal sogar das Licht im Klassenzimmer abgeschaltet hat, weil es über einen Bewegungsmelder gesteuert wird."
Lauscht man Donaubauer, man könnte denken, hier in Bayern sei die Welt des dreigliedrigen Schulsystems noch in Ordnung. Im konservativen Eichstätt, wo die Arbeitslosigkeit mit einer Quote von 0,9 Prozent so niedrig ist wie nirgendwo sonst in Deutschland und es für junge Familien keinen Grund gibt, die Region zu verlassen, scheint Kultusminister Ludwig Spaenles Lobrede auf die Vielfalt des bayerischen Schulsystems, das die unterschiedlichen Begabungen und Talente seiner Schüler individuell fördere, Sinn zu ergeben. Doch in Deutschlands größtem Bundesland schwärmen bei Weitem nicht alle von der Hauptschule.
Nur die Schüler fehlen
Auch im unterfränkischen Helmstadt führt Stephan Debes durch ein neues Schulhaus. Der rote Fußboden in den hellen Räumen verströmt den Geruch frischen Linoleums. Vor gut zweieinhalb Jahren wurde das Gebäude für über fünf Millionen Euro generalüberholt. Die neu angeschafften Werkbänke und Kreissägen in den Technikräumen, die 18 neuen Rechner im Computerraum, die Instrumente im Musikzimmer, sie alle wirken unangetastet.
Mucksmäuschenstill ist es auch hier, obwohl der Vormittag gerade begonnen hat, denn die meisten neuen Klassenzimmer sind verwaist. Ganztagsangebot, berufsorientierende Fächer, Betriebspraktika, einen "M-Zug", der zur Mittleren Reife führt, all das gibt es auch in Helmstadt. Was fehlt, sind die Schüler, die das Angebot auch wahrnehmen wollen.
Seit Bayern ab 1999 die sechsstufige Realschule eingeführt hat, geraten gerade Hauptschulen in strukturschwachen Regionen wie Unterfranken unter Druck. Zusätzlich zum demografisch bedingten Schülerschwund wandern junge Familien auf der Suche nach Arbeitsplätzen ab. 87 SchülerInnen, aufgeteilt auf vier Klassen, werden in Helmstadt in diesem Schuljahr unterrichtet, obwohl für bis zu 500 Schüler Platz wäre. Wegen Schülermangels kam keine siebte Klasse zustande, auch eine zehnte Klasse gibt es nicht.
Mindestmenge wird nicht erreicht
Die noch verbliebenen Schüler dieser Jahrgangsstufe besuchen die Mittelschule im 15 Kilometer entfernten Höchberg, das mit Helmstadt und einem weiteren Ort einen sogenannten Schulverbund bildet, wie es das bayerische Kultusministerium vorsieht. Für Stephan Debes ist das keine Lösung, die auf Dauer trägt. "In unserer sechsten Klasse haben wir derzeit 22 Schüler", rechnet er vor. Er vermutet, dass sich etwa ein Drittel in der siebten Klasse für den M-Zug entscheidet. Die Mindestmenge von 15 Schülern wird damit für keine der beiden Klassen erreicht.
Das Problem seien die hohen Übertrittsquoten an Realschule und Gymnasium, sagt Debes resigniert. "Kultusminister Spaenle spricht davon, dass 30 Prozent der Schüler in Bayern auf die Hauptschule gehen, aber sicher nicht im Landkreis Würzburg." Gerade mal 20 bis 25 Prozent der Schülerschaft blieben hier für die Hauptschule übrig. Debes, ein hager Mann mit jugendlichem Gesicht, ist Kreisvorsitzender des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV).
Dieser hat im Herbst 2011 eine Studie vorgelegt, die den zu erwartenden Schülermangel an bayerischen Hauptschulen prognostiziert. "Nach unseren Berechnungen sind 80 Prozent der Mittelschulen in Bayern bis 2030 in ihrem Bestand bedroht, weil einfach zu wenige Schüler übrig bleiben." Lange Anfahrtswege für die Kinder zur Schule und steigende Transport- und Verwaltungskosten für die Kommunen sind die Folge. Hinzu kommt die Angst, dass die ohnehin schon strukturschwache Region ohne wohnortnahe Schulen für junge Familien weiter an Attraktivität verliert.
Das Beispiel zeigt: Erfolg oder Misserfolg des bayerischen Hauptschulkonzeptes sind abhängig von der Region, in der die Schule liegt. Dort wo es viele Schüler gibt, mag das Angebot funktionieren. Doch wenn die Schüler fernbleiben, nützt das beste Konzept nichts, um ein Schulhaus zu füllen. Im bayerischen Kultusministerium erkennt man diese Tatsache schlicht nicht an. Die Studie des BLLV gehe von falschen Zahlen aus, heißt es dort. Die Übertrittsquote sei stabil. Eine Alternative zur Hauptschule ist im bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz nicht vorgesehen.
Keine Zusammenlegung
Stephan Debes versteht das nicht. "Das Konzept der Hauptschule ist heute nicht mehr zeitgemäß", sagt er. "Früher hatte eine Familie in Bayern noch vier bis fünf Kinder." Davon habe man höchstens eines aufs Gymnasium geschickt. Die Hauptschule funktionierte als Volksschule im wörtlichen Sinn. Heute bekommen die meisten Eltern nur noch ein Kind, das nach dem höchstmöglichen Abschluss strebt. Die Hauptschule ist für viele Eltern und Kinder die letzte Alternative. Bereits vor drei Jahren hatte die Helmstadter Mittelschule deshalb beim Kultusministerium einen Antrag gestellt, um Haupt- und Realschülern längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen und damit die Auslastung der Schule zu sichern. Der Antrag wurde abgelehnt.
Dabei liegt die Lösung des Problems für Debes auf der Hand: "Es gibt genügend Realschüler hier", sagt er, "wenn wir von der Dreigliedrigkeit weggehen und Haupt- und Realschüler länger gemeinsam unterrichten, müssten die Schulen nicht geschlossen werden."
Dass das bayerische Kultusministerium vor dieser Problematik die Augen verschließt, ist seiner Meinung nach vor allem ideologischen und wahltaktischen Gründen geschuldet: "Das dreigliedrige Schulsystem ist das Einzige, was die CSU in Bayern noch von der CDU unterscheidet." Die Bundeswehrreform, die Abkehr von der Atompolitik, die Eurorettung; die Christsozialen hätten in jüngster Vergangenheit schon einige ihre bis dato zentralen Markenkerne aufgeben müssen. "Die Schulpolitik ist das Einzige, wo sie sich noch profilieren können", sagt er frustriert.
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