Bayerisches Idyll im Umbruch: An der Schwelle zum Paradies
Holzkirchen liegt südlich von München. Die Städter bringen steigende Mieten und andere Lebensentwürfe. Wie sich der Ort damit arrangiert.
„300 Meter Luftlinie?“
„Natürlich Luftlinie, was denken Sie denn?“
Dass es einen Unterschied ausmacht, ob 300 oder 950 Meter zu gehen sind, für die man flotten Schrittes eine Viertelstunde benötigt, was vielleicht nicht jedermann möglich ist. „C-Lage“ sagt man dazu in Fachkreisen, und C ist in diesem Zusammenhang nun mal nicht so gut wie A oder B. Das weiß natürlich auch Rainer Scherbaum. Womöglich braust er deshalb auf: „Fragen Sie mich jetzt was anderes!“
„Was soll ich Sie denn fragen?“
„Warum die Holzkirchner ihr Einkaufsparadies lieben!“
„Warum …“ Der Unternehmer gibt sich direkt selbst die Antwort. „Weil ich Parkplätze habe, weil man sich bei mir gerne trifft und weil es herrlich ist.“ Ein Paradies eben. Für jene, die gern bei Deichmann, Charles Vögele oder Depot einkaufen.
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Wer? In Holzkirchen diskutieren wir u. a. mit dem Bürgermeister Olaf von Löwis und der taz Panter Preisträgerin Bettina Ismair.
Wann? Dienstag, 4. April, 19 Uhr
Wo? Papst Oberbräu, Marktplatz 18, 83607 Holzkirchen
Holzkirchen liegt etwa 30 Kilometer südlich von München und ist so etwas wie das Einfallstor für Städter, die das Wochenende am Tegernsee oder in den bayerischen Alpen verbringen wollen. Und den Bayernkitsch toll finden. Entsprechend oft ballt sich rund um die 17.000-Seelen-Gemeinde der Autoverkehr – bundesweit bekannt ist Holzkirchen vor allem durch die Staumeldungen auf der A8 Richtung Salzburg. Und es staut sich immer gegen zehn Uhr am Wochenende, denn dann ist der Münchner fertig mit seinem Milchaufgeschäume.
Gegen die Zeitenwende
Neben der stetig zunehmenden Verkehrsdichte bringt die Nähe zur Landeshauptstadt den Holzkirchnern Probleme, die mit den Gegensätzen zwischen Stadt und Umland zu tun haben – und mit dem, was Städter und Landmenschen mit ihrer und der jeweils anderen Lebensform verbinden. Es geht in Holzkirchen, wie an vielen anderen Orten in Deutschland, um Tradition und Veränderung, um Perspektiven und deren Wechsel, ganz generell also um Diskrepanzen und darum, ob diese in Einklang zu bringen überhaupt möglich ist.
Holzkirchen ist dabei so etwas wie der Damm zwischen zwei Kulturen. Von Norden branden München, die Weltstadt, ihre Vielfalt und Modernität und die zunehmende Zahl ihrer Einwohner an die Marktgemeinde. Nach Holzkirchen ziehen Menschen, die ihre Jobs und ihr Leben in der Großstadt nicht aufgeben, ihre Kinder zugleich aber auf „dem Land“ großziehen wollen. „Auskindern“ nennt das der ortsansässige Immobilienmakler, der natürlich auch weiß, dass es „das Land“ in Holzkirchen gar nicht mehr gibt.
Südlich des Städtchens stemmt sich das bayerische Oberland tapfer gegen die Zeitenwende. Bis heute ist dieses ein Hort des Brauchtums, des Katholischen, des Konservativen. Hier sind die Menschen tief verwurzelt, und sie fühlen sich verantwortlich für ihre Heimat.Holzkirchen muss diese Gegensätze aushalten, weil sie dort, an der Schnittstelle der Landkreise München und Miesbach, am heftigsten aufeinanderprallen.
Ein Großteil der Bürger wohnt in schmucken Einfamilienhäusern. Es gibt neben dem staatlichen auch ein privates Gymnasium, und eine private Grundschule bietet Ganztagsbetreuung. Für den Nachwuchs ist rundum gesorgt: Waldorf- und Waldkindergarten, Montessori- und Musikschule, alles da, alles vom Feinsten. Im Grunde also alles gut: Die neuen Holzkirchner gründen Elterninitiativen, engagieren sich in den Vereinen und kümmern sich um die Flüchtlinge vor Ort. Weil sie es sich leisten können.
Sie kaufen teure Gummistiefel
Für die, die immer schon da waren, bedeuten die „Zuagroasten“ aber auch eine konkrete Bedrohung: Der Wohnraum für Einheimische wird knapp und teuer. Da nützt es auch nichts, dass einige Jungbauern auf dem neuen Golfplatz Arbeit als „Greenkeeper“ finden. Oder dass sich die Städterinnen Dirndl nähen lassen, für Mutter und Tochter im Partnerlook. Klar, sie stellen ihre Pferde in die Reitställe und kaufen teure Gummistiefel. Aber sie gingen sonntags eben nicht in die Kirche und grüßen täten sie auch nicht, beschwert sich ein Mitglied des Trachtenvereins beim Elternsprechtag. Es gibt also durchaus Risse im Paradies.
Im Ortszentrum hat die Metzgerei Kleeblatt seit Jahrzehnten ihren Stammsitz. Acht Verkäuferinnen bedienen die Kundschaft, ihre Haare haben sie mit einem Häubchen verziert. Eine sagt: „Die Frauen haben daheim zwar die tollsten Induktionsküchen, aber ich muss ihnen erklären, was man aus einem Suppenfleisch alles machen kann: Rindfleischsalat, Tellerfleisch mit Kren, Gröstel, oder eine Suppeneinlage.“
Auch die Metzgerei muss mit der Zeit gehen, ihr Sortiment hat sie den geänderten Bedürfnissen angepasst. „In den Privatschulen und Kindergärten werden die Kinder auch mittags und nachmittags gut versorgt. Die Mütter kochen also nicht mehr. Dafür kaufen am Wochenende die Väter nur das beste Fleisch für ihren Weber-Grill.“
In Holzkirchen stehen die Induktionsküchen in Häusern, die 850.000 Euro und mehr kosten, für weniger gibt es kaum etwas. Für manche Anzeigen in der Tageszeitung haben die Immobilienmakler nur ein Schmunzeln übrig: „Junges Paar sucht altes Bauernhaus, gerne zum Renovieren.“ Rund um Holzkirchen kosten auch abbruchreife Höfe noch Millionen.
Veganes Essen unterm Hirschgeweih
Der Wirt vom Oberbräu, Manfred Pabst, sucht seit Langem eine Zweizimmerwohnung für die Tochter – vergeblich. Denn Zündkerzen- und Pharmakonzerne suchen auch. „Die Firmen wie Hexal und Bosch, die sich im Industriegebiet niedergelassen haben, mieten die kleinen Wohnungen zu Höchstpreisen an.“ Das Oberbräu ist eine stattliche Wirtschaft am Marktplatz. Vor dem Haus donnert der Verkehr, denn Holzkirchen hat statt einer Fußgängerzone eine Hauptverkehrsstraße im Ortskern.
Die Wirtsstube ist renoviert. Die Handschrift einer Expertin für Interieur, die offenbar viel Zeit mit Zeitschriften wie Living on the Country Site verbrachte, ist zu erkennen: samtige Kissen mit alpenländischen Motiven, graue Wände, weißes Holz. In einem Raum hängen zwei stattliche Hirschgeweihe. „Wir haben hier viele Gäste von Hexal. Einmal musste ich ein Geweih abhängen und über dem nächsten Tisch anbringen – die wollen halt alle unter den Geweihen hocken.“
Früher trafen sich im Oberbräu fünf oder sechs Stammtische. Heute gibt es nur noch sieben Männer, die regelmäßig kommen. „Schweinsbraten gibt es schon noch, aber ich verkaufe jetzt über 35 Prozent vegetarische und vegane Gerichte“, sagt der Wirt. Seine blauen Augen leuchten unter dem gut frisierten, grau melierten Haar. Er könnte bessere Geschäfte machen, aber er finde nicht genug Personal.
Die Jugend geht ins Einkaufsparadies
Eine Viertelstunde mit dem Auto von Holzkirchen entfernt liegen die schönsten Gehöfte am Taubenberg. Einige der Höfe dort hat die Stadt München schon vor Jahrzehnten erworben, denn sie bezieht vom Taubenberg ihr reines Trinkwasser. Ab und an kommt es vor, dass die Stadt München einen der alten Höfe neu verpachtet, natürlich gegen Höchstgebot. Die Jungbauern, die sich mit einem dieser Höfe gerne eine Existenz aufgebaut hätten, bekamen keinen Zuschlag. Stattdessen ging er an die Verleger einer Münchner Tageszeitung. Nun ist der Hof zu einem Bauernhofideal geworden. Einen Misthaufen gibt es jetzt nicht mehr.
Auch in der Ortschaft Thann am südlichen Rand von Holzkirchen prallen Gegensätze aufeinander. Es gibt in Thann nämlich einen ziemlich mondänen Reitstall und auch einen exklusiven Poloklub. Morgens wie abends sind Mädchen in engen Reithosen und mit langen Zöpfen eifrig dabei, ihre Pferde zu striegeln. „Früher“, erzählt der Stallbesitzer, „kamen die Pferdehalter größtenteils aus München. Heute wohnen die alle in Holzkirchen.“
Die Koppeln der Pferde liegen in Sichtweite des Hundeübungsplatzes, und gleich dahinter wölbt sich eine graue Traglufthalle, die Notunterkunft für die Asylbewerber. Wenn sie wollten, könnten sie zusehen, wie eigens aus Argentinien eingeflogene Gauchos die Polopferde trainieren. Das sind Gegensätze, mit denen eine Gemeinde wie Holzkirchen erst einmal zurechtkommen muss.
Auf dem Marktplatz, den eine wenig umsichtige Stadtplanung zum Parkplatz werden ließ, wird Basketball gespielt. Die Jungs werfen uninspiriert auf den Korb, Mädels schauen gelangweilt zu, der übliche Sprechgesang schallt aus dem Gettoblaster, öde Szene. Die Jugendlichen könnten auch Golf spielen, Polopferde reiten oder zum Eishockeytraining gehen. Wandermöglichkeiten gäbe es und alle die Dinge, die Eltern toll und Jugendliche ätzend finden. Auch ein Arthouse-Kino. Stattdessen gehen sie, wenn es ihnen noch langweiliger wird, lieber den knappen Kilometer hinüber ins HEP. Ins Einkaufsparadies.
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