Baugruppe im Streamtheater: Konkurrenz der Richtigmacher

Wie wollen wir leben? Das wird diskutiert im Streamtheaterstück „Bodentiefe Fenster“ nach dem gleichnamigen Roman von Anke Stelling.

Ein Frau in roten Kapuzenwindjacke hat ein Fernglas vor den Augen

Burnout einer Mutter: Sandra muss am Ende zur Kur an die Nordsee Foto: TD Berlin

Zunächst einmal eine Idee, die wirklich zünden könnte. 2021 ist das Jahr, in dem in dieser Stadt wie nie zuvor über den Mietendeckel und die Vergesellschaftung großer privater Immobilienkonzerne gestritten werden wird. Insofern ist das TD Berlin (bisher Thea­ter-Discounter) am Puls der Zeit, wenn er sich mit „vergangenen, aktuellen und zukünftigen Lebens- und Wohnformen der Hauptstadt“ beschäftigt. Er ist auch nah dran, wenn er sich gleich zu Anfang Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ aus dem Jahr 2015 vorzuknöpft.

Denn in diesem Buch wird exzessiver als in den meisten der letzten Jahre darüber nachgedacht, wie wir eigentlich leben wollen, welche Alternativen es gibt zum wohlhabenden Mainstream – und darüber, ob diese Alternativen es wirklich wert sind. Anke Stellings Erzählerin wohnt nicht, wie die meisten wohnen, muss aber dafür endlose gruppendynamische Diskussionen in der Baugruppe im Ex-Szenebezirk Prenzlauer Berg über sich ergehen lassen.

Am Anfang des Livestreams vom TD Berlin stellen sich tatsächlich Glücksgefühle ein. Der innere Monolog der Sandra, die an die berühmte Seherin Kassandra angelehnt ist, wird zunächst einmal auf drei Schauspieler verteilt, die rote Mützen wie die wütenden Bürger in Frankreich tragen.

Diese drei, also Susanne Abelein, Matthias Buss und Bettina Grahs, halten das Stück zusammen. Im Hintergrund sieht man ein roh gezimmertes Puppenhaus, in dem Sandras Nachbarn als Playmobil-Männchen erscheinen. Die klaustrophobische Stimmung, das Hauen und Stechen der „Richtigmacher und Rezeptverteiler“, die doch einmal angetreten waren, um alles anders zu machen, kommt plastisch daher.

Habitus und Jargon der Baugruppenbewohner

Auch, wie die Schauspieler den Habitus und den Jargon, die gängigen Floskeln der Baugruppenbewohner nachstellen: Das ist wirklich so bewunderungswürdig wie unterhaltsam. Sie bringen es nicht nur bei den Jüngeren, den heute Vierzigjährigen, auf den Punkt, sondern auch bei deren Eltern, den Kinderladengründern, den Achtundsechzigern und Hippies, die bei Anke Stelling ebenfalls eine große Rolle spielen. Denn auch, wenn man sich natürlich abgrenzen will: Eltern und Kinder ähneln sich in diesem privilegierten Milieu fatal. Beide wollen vor allem sich selbst verwirklichen, um jeden Preis.

„Bodentiefe Fenster“, wieder im Stream am 30./31. Januar, 4./5./6. Februar, jeweils 20 Uhr, https://theaterdiscounter.de

Doch genau an diesem Punkt geht es dann im TD Berlin irgendwie nicht weiter. So witzig die Idee ist, mit eingeblendeten, bunten Flyern das Hausplenum einzuberufen, das dann wirklich an einem langen Tisch nachgestellt wird und das Publikum im Chat einbezieht: Irgendwann erschöpft sich die Parodie auf den Umgang miteinander in dieser vermeintlich linksalternativen Suppe. Es wird einfach nicht weitergeforscht, warum sich dieses Diskutieren „auf Augenhöhe“ so ungeheuer monströs und verlogen anfühlt.

Die zentrale Frage, die Anke Stelling nämlich bei vielen ihrer Bücher stellt, ist nicht nur die, was das Leben in dieser Blase auf Dauer mit vernunftbegabten Menschen anstellen kann, sondern auch, wie diese Blase in Wirklichkeit gebaut ist.

Das Versprechen der neunziger Jahre

Das hat auch mit den Erfahrungen der Generation zu tun, der Anke Stelling angehört. Wie viele ihres Alters kam die Au­torin Anfang der neunziger Jahre nach Ostberlin, wo das Leben wenig kostete und wo es mehr Freiräume gab, als man bespielen konnte. Das große Versprechen dieser Zeit, dass alle alles machen können und darum gleich sind, hallt bei vielen, die das erlebt haben, bis heute nach. Sandra ist freischaffende Au­torin, die nie erben wird, sie lebt deutlich prekärer als ihre Nachbarn. Aber das kommt in der Inszenierung von Georg Scharegg kaum raus.

Am Ende, als Sandra dann wirklich durchdreht und zur Kur auf eine Nordseeinsel muss, nimmt das Stück dann nochmal etwas Fahrt auf. Sandra erscheint wie so viele Mütter, die sich nur noch von Wellnessangebot zu Wellnessangebot schleppen. Schade nur, dass auch das im Stück eher lächerlich erscheint. Der Klassismus, der diese Figur eigentlich mürbe kocht und von dessen Untersuchung das Stück profitiert hät­te: Es bleibt außen vor.

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