Bahnverkehr in der Ukraine: Menschen aus Eisen
Lange galt die ukrainische Bahn als ineffizientes Unternehmen. Nun retten Evakuierungszüge Millionen Menschen vor dem Tod.
M eine Eltern haben viel Mühe darauf verwandt, dass ich, wie man so sagt, „Kopfarbeiter“ werde, und nicht beruflich in ihre Fußstapfen trete. Mein verstorbener Vater war Eisenbahner und verbrachte fast sein ganzes Leben auf den Schienen. Auch seine Eltern haben ihr ganzes Leben bei der Eisenbahn gearbeitet. Sogar meine Mama, sowjetische Ingenieurin, wurde in den 1990er Jahren Eisenbahnerin, weil die Fabrik, in der sie bis dahin gearbeitet hatte, aufgehört hatte zu existieren.
Ironischerweise hat sie dann ihre eigene Mutter an der Fahrkartenkasse abgelöst, als die in Rente ging. Unsere ganze Stadt, ein kleiner Fleck auf der Landkarte im Gebiet Donezk, ist ein einziger großer Eisenbahnknotenpunkt, der in den postsowjetischen Jahren für „nicht mehr notwendig“ gehalten wurde, seit die neue Zeit und neue marktwirtschaftliche Bedingungen Einzug gehalten haben. Und staatliche Unternehmen für „ineffizient“ erklärt wurden.
Und dann marschierte Russland in der Ukraine ein.
Als in der ganzen Ukraine russische Raketen einschlugen, begannen die Leute, in den Westen des Landes zu flüchten. Die Straßen waren schnell überfüllt und nicht ungefährlich, die privaten Busunternehmen erhöhten sofort die Fahrpreise oder verschwanden einfach.
stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Ein großer Teil der Menschen, die aus anderen Regionen des Landes kamen oder in die Westukraine flüchteten, um von dort das Land zu verlassen, fuhr mit Evakuierungszügen.
Haben Sie in Filmen über den Zweiten Weltkrieg schon mal Militärzüge gesehen? Ja? Ungefähr genau so sehen die Evakuierungszüge von heute auch aus, nur dass sie statt von einer Dampflok jetzt von einer Diesel- oder Elektrolok gezogen werden. Die Zugfenster sind verdunkelt zum Schutz vor Luftangriffen, und die Züge fahren zwei-dreimal langsamer als gewöhnliche. Aber sie fahren.
Eisenbahner in der Ukraine tragen besondere Schulterklappen und eine Uniform. Früher habe ich Mama ausgelacht, haha, solche Schulterklappen, du verkaufst doch bloß Fahrkarten. Jetzt rettet ein ganzes Heer von Zugbegleitern, Lokführern, Fahrdienstleitern, Rangierern, Streckenarbeitern und anderen Millionen Menschen. Mehr als drei Millionen bislang, um genau zu sein. Meiner Meinung nach ist das mehr als effizient. Oder was meinen die Herren Manager dazu?
Am 12. März fuhr der Evakuierungszug 261/262 Lemberg-Kramatorsk in die Stadt Liman im Gebiet Donezk. Für die Zugbegleiterin Natalja Babitschewa wurde dies die letzte Reise ihres Lebens. In der Umgebung der Station Brusino geriet der Zug unter Beschuss. Nur einige Tage zuvor hatte genau dieser Zug auf genau dieser Strecke meine Schwester und meine Nichte aus der Region herausgeholt.
Bis zum 26. März sind 54 Arbeiter der Ukrainischen Eisenbahn durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen, 64 weitere wurden verwundet. Sie haben nicht besonders gut verdient, ihre Arbeit war nicht prestigeträchtig und die Bedingungen waren hart. Aber sie haben weitergearbeitet, um andere zu retten. Ihre Leistung sollte nicht vergessen werden. An vielen Bahngebäuden hängen Gedenktafeln zu Ehren der Arbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs gestorben sind.
Leider haben wir jetzt einen Grund, diese Tradition fortzuführen.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style